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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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der über die Fluren und die nahen leeren Straßen strich, Staub und Rauchfahnen mitnahm und zuweilen Düfte von Lavendel, Lilien und Pfirsichblüten, Stachelbeeren und Kiefern herüberwehte, die dann die Brise alle wieder entführte, auf dem Memorial Square verquirlte und die Welt mit Rascheln erfüllte, totes Laub und Staub im Gefolge, die um das Grabmal des Märtyrer-Propheten tanzten und um die Füße des Marmorengels stoben, und das alles unter einem Mond, der jetzt scharlachrot gefärbt war, beide unheilvollen Spitzen wie in Blut getaucht. Von unten angestrahlt von vier Rampenlichtern, ragte der monströse Engel gespenstisch vor dem pechschwarzen Hintergrund, die Sichel schlagbereit erhoben, als warte er auf irgendein Zeichen, um das goldene Werkzeug niedersausen zu lassen und die Kleine hinzuschlachten, die da auf der Treppe zu seinen Füßen kauerte.
    Man hatte sie Beth getauft, diese Kleine.
    Schuhlos kauerte sie auf der untersten Stufe, die Arme um die Knie geschlungen, die Form ihres ranken Körpers in den Falten ihres weißen Baumwollkittels verborgen. Sie hatte das Kinn in die Armbeugen gelegt, sah weder hierhin noch dorthin, bewegte ihre Zehen im staubigen Kies des Pfads, der bis an die Stufen des Denkmals heranführte und im Schein der Lampen weiß leuchtete wie ein geisterhafter Gefährte des großen Marmorengels, der hinter ihr aufragte. Ihre kleinen schwarzen Pumps standen Seite an Seite neben ihr. Ihre blonden Zöpfe glänzten golden unter dem Sargtuch der Nacht.
    Und sie sang, leise, langsam und melodisch:
    »Ich kenn da einen müden Fluß …«,
    Bis das Zuschlagen von Doc Morrows Tür und die Stimme ihres Vaters dem Lied ein Ende machten.
    »Beth! Komm nach Hause!« rief Sardus Swift von der Arztveranda, und schon hatte das Kind seine Schuhe angeschnallt und stapfte über den Pfad zur Straße.
    Sardus hob seine Tochter hoch und küßte sie leise auf die Stirn. Beth lächelte über irgendeinen heimlichen Gedanken, klein und weiß schimmerten ihre neuen Zähne.
    »Nach Hause«, seufzte sie und schlang ihre Arme um seinen Hals, die blonden Ponyfransen hell und seltsam deplaciert neben dem rauhen Gestrüpp von Sardus’ schwarzem Bart.
    Das schlafende Kind in den Armen, blickte Sardus Swift leise summend zu den blinkenden Sternen auf und sah den Mond – ein Grinsen im Gesicht des Himmels – den Weg nach Hause antreten.
     
    In den goldenen Zeiten der Gnade, die auf das Ende des Regens folgten, da Schleier schlammigen Wassers aus Feld und Weg und Talboden stiegen, da die Ukuliten sich an jedem neuen heiteren Tag erfreuten und mit Gebeten ihrem allergnädigsten Gott Dank sagten, hatte ein gewisser Arzt mit Namen Morrow sich aus dem Zentrum des Jubels geschlichen und einen noch immer nicht hellen Winkel aufgesucht, um den schaurigen Geist auch aus seinem letzten finsteren Refugium zu vertreiben.
    Die ersten Male ließ Sardus Swift die Tür verschlossen, und der Arzt kehrte, den noch namenlosen Findling auf den Armen, unverrichteter Dinge in seine Praxis zurück. Doch als er beim vierten Besuch anklopfte, gab die alte Brettertür unverriegelt nach und schwang langsam auf.
    Doc Morrow trat ein und stieg über einen Haufen Post, die ungeöffnet auf dem Boden lag. So überaus verwahrlost war die Einsiedelei seines Freundes, daß der Doktor vor dem Anblick schier zurückbebte. Zorn wallte mächtig in seiner Kehle hoch, doch je tiefer er das in der ungeheuren Verschlamptheit dieses Hauses manifeste Ausmaß von Selbsthaß auslotete, desto mehr wich seine Wut einer aufrichtigen Betrübnis über das unerhörte Los seines Bruders.
    Er ging durch den Flur und hielt vor der Schwelle der alten, einst so hellen und heiteren Wohnräume der verrückten unfruchtbaren Mrs. Swift.
    Inmitten der stinkenden giftigen Trümmer seines Verderbens – diesem greulichen Chaos des Verhärmten – hockte ein fürchterlicher Sardus Swift, ungewaschen, gelbsüchtig, hager, das Gesicht von einem schwarzen verfilzten Bart belagert und von langen fettigen Haaren überhangen. Er saß, die Hände im Schoß gefaltet, auf einem mit Zeitungspapier vollgestopften Sessel. Um ihn herum lagen Papierknäuel, schmierige Kleidungsstücke und verfaulte Essensreste, und er hatte den Blick nach der Tür gerichtet, wo Doc Morrow sprachlos mit seinem Bündel in den Armen stehengeblieben war.
    Fast ohne die blasigen Lippen zu öffnen, sprach Sardus mit rauhem Flüstern, das manchmal zu einem kaum hörbaren Zischen wurde. Er hob die Hände nicht aus

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