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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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die Mauer bis zu den allerletzten Tagen vor dem Ende längst nicht so undurchdringlich, wie es den Anschein hatte. Sie bellte womöglich, biß aber nicht. Auf alle Fälle – hätten die Eindringlinge, oder sollte ich sagen: die gescheiterten Eindringlinge, ein wenig mehr Mumm besessen, dann wären sie aus allem, was auch immer sie im Schilde führten, als Sieger hervorgegangen.
    Aber so trügerisch die Mauer auch wirken mochte, erfüllte sie doch ihren Zweck. Sie zog eine Linie zwischen mich und meine Verfolger. Ja, obwohl ich wußte, daß sie mich hinter der Mauer belauerten, hielt dies baufällige und instabile Bollwerk mit seiner Krone aus schartigen Blechzacken und rostigen Nägeln – eine Armenkrone, umwunden mit Stacheldraht, wie die des Herrn, aber zusätzlich gespickt mit grünen und hellbraunen Glasscherben – die außerhalb schwärende Niedertracht davon ab, mein Königreich zu vergiften. Nein! Mehr noch! Ihren König zu vergiften!
    Ein seltsames Gefühl überkam mich, wenn ich von meinem hohen Turm hinabsah – das stolze Gefühl, etwas geleistet zu haben; denn zunächst mal sah diese Mauer ja wirklich verdammt böse aus, und das erfüllte mich natürlich mit Stolz. Aber ich schätze, was mir so richtig das Blut im Hals pochen machte, war das Bewußtsein, daß aus der Höhe noch ein anderer König hinabsah, genau wie ich, nur höher und königlicher, und daß Er all das sah – mich sah und wissend nickte und bei sich dachte: »Der Junge hat mir große Ehre gemacht«, und sich zurücklehnte, sich auf Seiner Wolke zurücklehnte und dachte: »Ja, bald ist es Zeit, ihn auszusenden. Bald ist es Zeit, ihn auszusenden.«
     
    Ich hab in dieser Zeit noch anderes getan als aufbauen. Anderes, zum Beispiel niederreißen. Nachdem Pa mich alleingelassen hatte, wurde mir das Innere der Hütte unerträglich widerwärtig. Die Mordwände des Wohnzimmers ekelten mich an. Und auch meinen eigenen elenden Verschlag, das Sterbezimmer, den Blutkasten, vermochte ich nicht mehr zu betreten. Und die Angst, die ich vor ihrem Zimmer hatte, dem Zimmer meiner Gebieter, fraß mich auf.
    Eines tapferen Tages gelang es mir, dessen Tür zwei Fingerbreit zu öffnen, nur um gleich wieder voller Grauen zurückzubeben, obwohl doch die Despotin, meine Ma, schon vor so langer Zeit vom Thron gestürzt und aus dem Weg geräumt worden war. Diese versoffene Sau, ihr wißt schon, war immer noch nicht weg – jedenfalls nicht ganz. Nein. Überhaupt nicht. Ihre Fäulnis war noch da. Im Mief und Muff ihres Zimmers. Die eingesperrte Luft, die stammte von ihr. Das konnte man schmecken. Das konnte man riechen. Das konnte man spüren. An diesem einen kurzen Atemzug hatten meine Sinne genug, um mir eine ganze Scheißladung von häßlichen Szenen mit all ihrer posthumen Widerwärtigkeit durch den Kopf flackern zu lassen – Bilder von Ma –, geistige Sadisten, die brutal mein Hirn geißelten. Ich bebte zurück, wie gesagt, taumelte durchs vordere Zimmer und aus der Fliegentür, und als ich übers Geländer sank, stülpte sich mir der Magen um und spie einen dünnen Strahl Galle über Disteln, Wicken und Immergrün.
    Übers Geländer gesunken, das mir tief in den Bauch schnitt, ließ ich mich hängen, meine Arme baumelten nur Zentimeter über dem perlgrauen Gallensaft unter mir. Beim ersten matten Schwall Blut lief mein Gesicht rot an, klopfte immer heißer, doch blieb ich so und wehrte dem Pochen und Schmerzen meines Kopfes nicht. Ah, der Pulsschlag des Lebens, und langsam kam mir eine Lösung.
    Noch am selben Nachmittag schlug ich sämtliche Bretterwände aus der Hütte heraus. Und am Abend gab es weder mein Zimmer noch ihres mehr, und ich saß erschöpft in der Mitte einer Bretterhülse. Groß war sie, und anders. Nichts von ihnen war mehr übrig – das Bett, ihr Sessel, die Bretter: all das war jetzt in meine Außenmauer eingebaut. Sogar die schlechte Luft hatte sich verzogen, diese muffige modrige Luft, und gute Luft war hereingekommen.
    Nur Pas Truhe war noch da. Ich hatte sie in die Mitte der Hütte geschleift, und jetzt stand sie vor mir, schwer von ihrem unbekannten Inhalt, verschwiegen über ihre Geheimnisse, ein Vorhängeschloß vor den Lippen.
    Der Schlüssel zu der Truhe war unter den Trümmern dieses Tages nicht zu finden, das wußte ich; denn der Schlüssel war bei Pa, unter der Erde, irgendwo tief in seiner Tasche, auf immer für sein Schloß verloren. Während ich ein Brecheisen ans Schloßblech der Truhe setzte, kam ich ins Grübeln. Wo

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