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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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war mein Schlüssel? In wessen Tasche ruhte er?Befand er sich über der Erde, hier oben, oder unter der Oberfläche, hier unten? Gehe ich, in diesem Augenblick, von ihm weg oder zu ihm hin? Bestimmt doch zu ihm hin, denn auf dem Boden hab ich ihn nicht gefunden, und er mich auch nicht. Was ist nur mit diesem pflichtvergessenen Schlüssel, der den Apparat meiner Sprechwerkzeuge aufschließen könnte? Wo ist er?
    Unter langgedehntem Ächzen gab das Schloßblech nach, und das Schloß schlug dumpf auf dem hartgetretenen Boden auf.
    Ach, wenn es für mich doch auch nur so einfach wäre.
    Aus den Hügeln scholl das unheimliche Bellen eines wilden Hundes, und ich saß eine Minute schweigend da, hörte ihm zu und starrte in die Truhe.
    Von einem Schild an der Innenseite erfuhr ich, daß die Truhe ursprünglich einem Captain Theodore Quickborn gehört hatte; und diese Truhe, dieses alte ausrangierte Relikt vom Schrotthaufen, hatte, den hundert verblaßten Aufklebern nach zu urteilen, sämtliche Häfen in Ost und West, Nord und Süd, weit und breit, über stürmische Breiten und endlose Längen, angesteuert, um seine ungewisse Reise hier, in einem abgelegenen Tal im Binnenland, auf einem so viele Meilen vom Meer entfernten Berg von Abfällen, zu beschließen.
    Captain Quickborns gesamter Besitz schien in dieser Truhe enthalten. Und warum ihr tätiges Leben hier geendet hatte, hier, hundert Meilen weit weg von Meer und Sand, wurde mir klar, sobald ich damit begann, seine salzigen Habseligkeiten zu sichten. Ich dankte Gott.
    Als erstes nahm ich das Kapitänsjackett heraus, eingewickelt in brüchiges, altersfleckiges Papier. Es war marineblau mit goldenen Knöpfen und schweren goldenen Epauletten, die wie Schlüssellöcher oder phantastische Vorhängeschlösser geformt und von glänzenden Quasten gesäumt waren – zwei starke vergoldete Streifen, die wuchtig auf den Schultern saßen. Goldsilbern gewirkte Tressen schmückten Ärmel, Aufschlag und Kragen. Es war tadellos sauber, als wäre es für die Zeit nach der Entlassung eigens gereinigt und gebügelt worden. »Warum?« fragt ihr. »Genau!« antworte ich. Weil das wahre Leben des Jacketts gerade erst begonnen hatte. Es hatte auf mich gewartet! Auf mich! MICH! MIIICH!
    Ein bißchen zu weit vielleicht, aber wenn ich die Ärmel umschlug und einen Ledergürtel straff um meine Taille schnallte und hahnenhaft den Brustkasten vorwölbte, dann paßte sie mir ausgezeichnet, wie von Gott vorgesehen.
    In der linken Jackentasche fand sich eine kleine grüne samtene Schachtel. Darin lagen Seite an Seite vier Orden, jeder hübsch ordentlich in seiner samtenen Kerbe. Messingfarben und gebosselt, hingen sie schwer an schmalen bunten Seidenbändern, und ich heftete sie mir an die linke Brust, die bereits mit goldenen Streifen und glänzenden, gestreiften Bändchen übersät war.
    Aus dem Pedal einer alten Nähmaschine und einem Wetzstein, den ich wahrscheinlich aus einem der Zuckersilos gestohlen hatte, sowie einem primitiven System von Achsen, Rädern und Gurten hatte ich mir einen Messerschleifer gebastelt. Nun schliff ich die rostige Sichel, die ich im Sumpf gefunden hatte – erinnert ihr euch? –, an dem Tag, als der Pöbel aus der Stadt kam und meine Grotte schändete und meine Welt kurz und klein trampelte. Jetzt glänzte die Sichel unheilvoll silbern und war böse gekrümmt wie ein Hexenfinger, und so schob ich sie mir nach Piratenart in den Gürtel.
    Mit meinem jetzt langen Haar sah ich im Spiegel aus wie ein verdammter Prinz. Ein König. König Euchrid der Erste. Monarch von Hundskopf.
    Tritt dem König nicht zu nahe, Bruder. Tritt dem König nicht zu nahe. Und dann blickte ich noch einmal zum Himmel und noch einmal dankte ich Ihm.
    Ein Hut, den ich auf den Müll warf.
    Ich hasse Hüte. Karten und Logbücher und offizielle Papiere, die ich nach weiteren Befehlen durchsuchte. Aber ich fand nur einen Haufen Zahlen, Gleichungen und nautische Fachausdrücke, aus denen ich keine weiteren Anweisungen gewinnen konnte – nichts. Die Tagebücher des Kapitäns, dicht mit winzigem Gekritzel vollgeschrieben. Es war offenbar, daß der langwierige Prozeß der Entwirrung dieses verknoteten Geschreibsels mir nichts einbringen würde. Gottes Wort ist schlicht. Offen und wahr. Das ist kein Spiel, was wir hier treiben.
    Als ich die Journale beiseite warf, fielen daraus zwei Photos auf den Boden. Eins zeigte Captain Quickborn. Er war größer als ich und viel viel älter, und er hatte einen mächtigen

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