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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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weißen Bart und trug eine Kappe, doch als ich sein Bild und daneben mein eigenes in dem langen Spiegel sah, fiel mir die flüchtige Ähnlichkeit zwischen mir und ihm auf, zwischen ihm und mir, wie ich da in dem Glas gespiegelt stand. Ich wußte, seine Augen waren blau, und obwohl sein Gesicht zerklüftet schien und in den Sepiatönen des Photos schier schwärzlich wirkte, war es offensichtlich, daß See und Salz hier ein Gesicht eingedunkelt hatten, das einst blaß und blutleer gewesen war – wie meins. Zufall – sicher. Aber glaubt mir, und ich sollte es wohl wissen, Zufälle kommen selten allein.
    Als ich nach dem zweiten Photo langte und mir sein Inhalt deutlicher wurde, erstarrte meine Hand mitten im Griff.
    Es war ein Photo von seinem Schiff – dem Bug seines Schiffs. Es war ein Photo von der Galionsfigur oben am Bug des Schiffs. Es zeigte Kopf und Torso eines kleinen Mädchens, aus Holz geschnitzt und bemalt mit einem weichen runden Gesicht, das von langen goldenen Locken eingerahmt war. Ein Blumenkranz saß auf ihrem Kopf, und zwei Engelsflügel spreizten sich rückwärts nach back- und steuerbord. Schmalschultrig, mit zwei kleinen knospenden Brüsten, wirkte die Galionsfigur wie ein leibhaftiges Abbild von ihr. Von Beth. Doch ihr Name war nicht Beth. Sondern NATASHAI; so stand es in geschnitzten Blockbuchstaben auf einer Tafel unter der Spitze ihres Backbordflügels. NATASHAI. Ich sah das Photo im Spiegel, und für einen Augenblick war ich gelähmt von dem, was ich da sah – das Bild von Beth, und darunter stand geschrieben I AH SATAN! I AM SATAN!
    »Na und? Weiß ich doch«, dachte ich, und warf Bilder, Karten und Logbücher zu dem anderen Müll im hintersten Winkel der Hütte.
    Ich entnahm der Truhe einen röhrenförmigen Behälter aus Leder und Holz, öffnete ihn an einem Ende, und heraus glitt ein schwarzes Teleskop. Ein Sehrohr! Dreifach zusammenschiebbar! Ein drittes ausfahrbares Auge! Ein tragbares Guckloch, mit dem sich die grauen Launen der Entfernung überbrücken ließen – das die Möglichkeit des Ertapptwerdens ausrottete. Ein starres Auge auf einem ausziehbaren Stiel!
    Ein Sturzbach purer Blut-Kraft strömte durch meine Adern, und mein Herz, eine geballte innere Faust stieß mich von meinem Sitz, und schon rasten meine Fortbewegungsorgane. Das Teleskop unterm Arm – meinem rechten und mächtigen Arm, mit dem umgoldeten Handgelenk und der goldenen Schulter – stürzte ich auf die Veranda, stellte mich an deren südlichem Ende auf, nahm den Deckel von der untertassengroßen Linse, zog das Gerät zu seiner ganzen Herrlichkeit auseinander und richtete das lange schwarze Rohr auf die Stadt. Ich drehte am großen Auge des Sehrohrs – scharf, unscharf – und richtete es auf den Memorial Square, um den weißen sichelschwingenden Marmorengel zu erspähen. Aber die spitzgieblige Fassade des Gerichtsgebäudes stand meinem Blick im Weg. Über dem Portal sah ich das gemeißelte Abbild der Justitia mit Waagschalen und Augenbinde. Um bessere Aussicht zu haben, stieg ich auf das Geländer, und dort oben balancierend, glaubte ich die erhobene Sichel des Engels aufblinken zu sehen, verlor aber dann das Gleichgewicht, und dann verwischte sich alles, stürzte auf mich zu, wurde schwarz und explodierte in einem grellen Blitz. Das große Auge schlug auf den Boden, wobei das Teleskop sich glücklicherweise in dreifacher Einstülpung zusammenschob – und selbst keinerlei Schaden erlitt, während es mir schier den rechten Augapfel vom Stirnlappen meines Hirns rammte. »Ein gutes, robustes Sehrohr«, dachte ich, als ich es mit meinem noch brauchbaren Auge untersuchte. »Aber ich brauche einen besseren Aussichtspunkt«, überlegte ich noch, bevor mein Kopf von einem lärmenden Haufen von Gedanken überfallen wurde und jede Menge großartige Ideen auf mich einschrien – Hirnchaos. Ich humpelte wieder hinein, setzte mich hin, erkannte die Symptome und wartete geduldig, daß der Radau sich legte – damit die Stimme Gottes mit ihrem festen, abgeklärten System – ihrem Lösungssystem – sich über all dem Lärm in meinem Kopf erheben konnte. Aber noch ehe ich Seinen Chor – Seine Sänger – überhaupt vernommen hatte, suchte ich schon mit meinen Augen die Decke ab und dachte, ich könnte doch eine Säge nehmen und ein kreisrundes … einen Tunnel … Turrel … nein … Turm, ja – einen Turm, einen Turm! Und ich sah die ganze Anlage bereits komplett vor mir – die schräge Trittleiter, zwölf Sprossen

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