Und die Goetter schweigen
Bekanntschaft, die sie in einem privaten psychiatrischen Krankenhaus gemacht hatte, wo sie eine Zeit lang untergebracht gewesen war. Vidar war, was man zu meiner Zeit stumpfsinnig nannte. Kräftig wie ein Stier, aber ohne Willenskraft. Er ging nur mit und tat, was Disa ihm sagte. Für sie war es kein Problem, ihn für einen kurzen Urlaub da herauszuholen. Er wurde als völlig ungefährlich betrachtet, ohne Initiativkraft. Mir fällt ein, dass er Schuhgröße 46 hatte. Disas Fußspuren waren auch dabei. Vidar sagte später, sie hätte ein Paar Herrenschuhe mit Zeitungspapier ausgestopft, um in Größe 42 zu passen.«
»Vidar, lebt der noch, wissen Sie das?«
»Ich habe ihn im Sommer noch in der Zeitung gesehen. Das war in einer Artikelserie über die Wohnverhältnisse von geistig Behinderten. Vidar war auf der ersten Seite mit einer Motorsäge in der Hand abgebildet. Ich hab den Artikel gar nicht lesen können, weil Louise die Zeitung nahm, um Feuer im elektrischen Herd zu machen. Ihr fallen Dinge ein aus der Zeit, als sie Kind war«, erklärte Bernhard. »Der Ermordete, Bertil Simonsson, war Gynäkologe. Auf seinem Unterarm konnte man die Worte LEBEN FÜR LEBEN lesen, eingeritzt mit einer Nadel und gefärbt mit seinem eigenen Blut. Damit Sie das richtig verstehen können, muss ich Ihnen erzählen, wie Disa Månsson aufgewachsen ist.«
»Disa wuchs bei ihrer Mutter auf. Die Eltern hatten sich früh scheiden lassen. Der Vater war Archäologe und reiste viel. Nach der Scheidung traf er sein Kind ganz selten, bei der Konfirmation, dem einen oder anderen Geburtstag. Nachdem die Mutter auf Dauer in die psychiatrische Anstalt Ulleråker eingewiesen worden war, bekam er das Sorgerecht für seine heranwachsende Tochter. Disas Mutter, Saga Månsson, war schwer psychotisch. Als sie das erste Mal ins Krankenhaus kam, war Disa fünfzehn. Wie lange Saga ihre Krankheit versteckt hatte, oder wie lange Disa ihr geholfen hatte, sie zu verbergen, weiß man nicht. Während die Mutter im Krankenhaus war, durfte Disa bei einer Nachbarin wohnen. Als Saga nach ein paar Jahren aus dem Krankenhaus kam, geschah etwas mit Disa. Sie hatte eine Zeit lang intensiv über ihren Vater nachgedacht und alles gelesen, was dieser über nordische Mythologie geschrieben hatte. Ein Nachbar fand Saga bewusstlos in der Waschküche. Niemand weiß sicher, was da geschehen war, aber als der Krankenwagen kam, stand Disa mit dem rechten Auge ihrer Mutter wie mit einem Schleimklumpen in der Hand da. Offensichtlich hatte sie es mit einem Messer herausgeschnitten. Danach wurde auch sie ein Fall für die Psychiatrie. Das Verblüffende daran war, dass Disa keine Schuld für das empfand, was sie getan hatte. Sie hatte der Mutter das Auge in bester Absicht genommen, nämlich damit diese weise würde. ›Odin musste ein Auge opfern, damit er in die Zukunft sehen konnte‹, sagte sie. Nach einiger Zeit in einer privaten psychiatrischen Klinik wurde Disa schwanger. Wer der Vater des Kindes war, wurde nie festgestellt. Disa wurde gezwungen, einen Antrag auf Abtreibung und Sterilisation zu stellen. Das Gesetz über Sterilisation wurde 1934 erlassen und betraf Personen, die wegen ›Geisteskrankheit, Schwachsinn oder anderer Einschränkung der geistigen Frische dauerhaft nicht in der Lage sind, eigene Entscheidungen zu treffen … und wenn Personen auf Grund seelischer Störungen nicht fähig sind, das Sorgerecht für ihre Kinder auszuüben‹. Im Gesetz heißt es auch: ›Niemand darf bei Verweigerung oder gegen seinen Willen sterilisiert werden.‹ Nach dem Eingriff und dem Ausbruch von Raserei, der folgte, als sie begriff, was dem Kind, das sie erwartete, geschehen war, zog Disa zu ihrem Vater. Er war im gleichen Jahr nach Schweden zurückgekehrt. Es gelang Henrik Månsson, Ruhe in das Leben seiner Tochter zu bringen. Disa machte eine Berufsausbildung und zog nach einiger Zeit in eine eigene Wohnung in der Innenstadt von Uppsala. Alles ging seinen Gang, solange der Vater lebte. Als er kurz nach einem Herzanfall am Morgen des Luciatages 1986 verstarb, verlor Disa wieder den Halt in ihrem Leben. Kurz vor Weihnachten, zur Mittwintersonnenwende, folgte sie Bertil Simonsson auf seinem Heimweg von einer Vorlesung im akademischen Krankenhaus von Uppsala durch den Stadtpark. Zwei Zeugen haben das ausgesagt. Der Platz für den Mord war sorgfältig ausgewählt. Ein Kultplatz, vom Weg aus nicht einzusehen. Der Tatort war mit Fruchtbarkeitssymbolen geschmückt: Weizenähre und
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