Und die Hölle folgte ihm nach
Farbe.
Außer der Tür, durch die sie aus der Bibliothek nach draußen gelangt waren, gab es noch eine weitere, die aber, von der Terrasse aus gesehen, keine Klinke hatte. Fidelma steuerte auf sie zu und stemmte sich dagegen. Sie war genauso stabil gebaut wie die Mauer und von innen zugesperrt und verriegelt. Prüfend schaute sie in die Höhe. Es gab zwar ein paar hohe Fenster, aber selbst von dort oben hätte man nicht mehr sehen können. So viel stand fest – sie waren von allen Seiten umzingelt.
Fidelma ging noch einmal zur Brüstung, Bruder Eolann tat es ihr nach. Ein Blick in die Tiefe belehrte sie, dass die Felswand steil nach unten ins Tal ging. An sich waren Berge und Höhenunterschiede nichts Ungewöhnliches für sie, aber das hier machte sie schwindlig. Sie holte tief Atem und trat einen Schritt zurück.
»Es sind schätzungsweise fünfhundert Fuß bis zum Talgrund«, vernahm sie hinter sich eine bekannte Stimme, die das in Latein sagte.
Jäh drehte sie sich um. Grasulf, Seigneur von Vars, stand in der für sie eben noch geheimnisvollen Tür.
»Eine beeindruckende Aussicht«, gab sie zu.
»Als Ausgang aus der Festung ist die Stelle dort nicht unbedingt zu empfehlen«, sagte Grasulf ernst. »Zumindest ist er nicht für unsere Gäste gedacht. Die niedrige Brüstung dient anderen Zwecken. Für alle, die versuchen, uns an der Nase herumzuführen oder Verbrechen zu verüben, die gegen uns gerichtet sind, will sagen Diebe und Mörder, ist es der direkte Weg, den Ormet zu überqueren und unmittelbar in den Armen der Göttin Hel zu landen.«
Fidelma verstand nicht recht. »Gewissermaßen eine Hinrichtungsstätte«, erläuterte Bruder Eolann. »Die Göttin Hel regiert über Helheim, ihre Unterwelt.«
»Dein Wissen imponiert mir, Bruder Eolann«, schmeichelte ihm der Seigneur von Vars. »Genau das habe ich gemeint. Ormet ist der Fluss, der Leben und Tod voneinander trennt. Aber wie gefällt euch meine kleine Bibliothek? Die ganze Zeit, seit mein
scriptor
gestorben ist, habe ich jemand gesucht, der Bücher schätzt und mit ihnen umzugehen versteht. Fast habe ich den Eindruck, die Schicksalsmächte haben euch zu mir geführt.«
»Wenn du mit Schicksalsmächten die Krieger meinst, die uns hierher verschleppt haben, könnte das so sein«, entgegnete Fidelma trocken. »Nur bezweifle ich, dass ich lange genug hier bin, um mich in deine Bücher zu vertiefen, Grasulf.«
Der Seigneur von Vars nickte befriedigt. »Ich habe es ewig nicht mehr mit einem geistreichen Menschen zu tun gehabt. Du wirst heute Abend mit mir speisen, ja, auch Bruder Eolann. Ihr könnt mir beim Mahl über das Leben jenseits dieser Täler berichten. Ich schicke euch Kakko, der wirdeuch zu mir bringen. Bis dahin überlasse ich euch meinen Büchern.«
Er wandte sich um und verließ sie auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Sie hörten, wie die Tür von der anderen Seite verriegelt wurde.
Fidelma ging noch einmal zur Brüstung.
»Was hast du vor?«, fragte Bruder Eolann besorgt.
»Will nur mal sehen, wie der Weg in den Höllenschlund tatsächlich aussieht«, gab sie zurück.
Sie blieb etliche Minuten dort stehen und tastete mit den Augen den schwindelerregenden Abfall zum Talgrund ab. Danach begab auch sie sich in die Bibliothek, wo Bruder Eolann schon wieder über die Schriftrolle gebeugt saß, die es ihm so angetan hatte. Missbilligend sah sie ihn an, waren doch ihre Gedanken mehr auf etwaige Fluchtmöglichkeiten konzentriert. Dann aber fielen ihr die merkwürdigen Geschehnisse in der Bibliothek von Bobium ein, und sie ging zu den Regalen.
»Hattest du mir nicht von irgendwelchen Büchern aus deiner Bibliothek erzählt, die man mutwillig beschädigt hat?«
»Ja. Wie kommst du darauf?«
»Kannst du dich an die Titel erinnern?«
»Selbstverständlich. Ich habe dir doch erzählt, dass ich nach anderen Bibliotheken gesandt habe, um nach Kopien zu forschen, mit denen wir die beschädigten Exemplare ersetzen könnten.«
Fidelma war mit einem blendenden Gedächtnis gesegnet. Zum Teil hatte sie es ihrer Ausbildung zur
dálaigh
zu verdanken. »Wenn ich mich recht erinnere, war das eine das Geschichtswerk des Livius
Ab urbe condita libri
.«
»Stimmt.«
»Hier steht eine Abschrift.« Fidelma zeigte auf einenBuchrücken. »Könnte ja sein, du wüsstest gern, was auf den entfernten Seiten gestanden hat.«
Bruder Eolann nahm das Buch aus dem Regal und legte es auf den Tisch. »Das sieht nach einer exakten Kopie aus. Ich kann mich noch
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