und die neue Klasse
vorne und schnappte sich das Blatt Papier. Es war an den Rändern ganz mit Kleeblättern und rosa Herzen verziert.
»Ah, ein Liebesbrief«, rief sie triumphierend und fuchtelte damit durch die Luft.
»Lies mal laut vor, Lukas!« Sie faltete eilig eine Schwalbe aus dem Blatt und warf es dem rothaarigen Jungen zu. Anscheinend hieß er Lukas und war ein Freund von Tanne. Er hatte sich inzwischen ein paar Reihen weiter an die Wand gelehnt und beobachtete den Zank gespannt. Jetzt schoss Lukas in die Höhe und fing die Schwalbe grinsend auf.
»Nein!«, kreischte Josefine. »Gib ihn mir sofort zurück.« Sie stürzte sich auf Lukas und biss ihm kräftig in den Arm.
Lukas schrie vor Schmerz laut auf und ließ die Schwalbe fallen.
Im gleichen Augenblick betrat Frau Kussmund das Klassenzimmer.
»Was ist denn hier los?«, rief sie stirnrunzelnd. »Josefine! Lukas! Sofort setzt ihr euch auf eure Plätze.«
Sie hob die Schwalbe vom Fußboden auf, warf einen flüchtigen Blick darauf und legte sie auf ihren Schreibtisch. »Hausaufgaben sind das wohl nicht. Der Besitzer kann sich das Werk nach der letzten Stunde bei mir abholen.«
Sie musterte ihre Klasse ärgerlich. »Eure neue Mitschülerin Nele Winter bekommt ja einen schönen ersten Eindruck von euch«, schimpfte sie. »Josefine und Lukas bleiben heute eine halbe Stunde länger und helfen mir, die neuen Sportbälle auszupacken.«
Josefine schniefte laut auf. »Tanja hat angefangen. Wie immer. Frau Kussmund, ich kann nicht nachsitzen«, jammerte sie. »Ich will heute gleich nach der Schule zum Reiten gehen.«
Frau Kussmund guckte ungerührt. »Wer hier nachsitzt, das bestimme immer noch ich. Zuerst werden die Kisten ausgepackt. Zum Reiten hast du noch den ganzen Nachmittag Zeit. Und jetzt schauen wir uns die Hausaufgaben an. Josefine, du kannst mit der Textaufgabe beginnen.«
In der ersten großen Pause an Neles neuer Schule bewies sich, was Nele bereits nach fünf Minuten so klar wie Kloßbrühe gewesen war. Das Mädchen mit dem Pferdeschwanz, das Josefine hieß, würde nicht ihre beste Freundin werden. Sie war nämlich die Einzige, die sich sofort verdrückte, als ihre neuen Mitschüler Nele mit neugierigen Fragen nach der Burg löcherten. Sehr viele Freundinnen schien Josefine sowieso nicht zu haben. Das war ihr schon im Unterricht aufgefallen. Einige Mädchen hatten hinter ihrem Rücken über sie getuschelt und ihr Gesichter geschnitten. Aber besonders nett kam sie ihr auch nicht vor. Nele fand es total daneben, wie sie über Tannes große Vorderzähne abgelästert hatte. Auch jetzt stand Josefine mit zwei jüngeren Mädchen alleine in der Ecke herum. Soviel Nele sehen konnte, tauschten sie gegenseitig Pferdeaufkleber. Nele war aufgefallen, dass alles, was Josefine mit sich herumtrug, mit Pferden zu tun hatte. Sogar ihr Schulrucksack sah aus wie ein kleines Pony. Bestimmt konnte man mit ihr prima über Pferde reden, aber über sonst gar nichts.
Dafür war Tanne umso beliebter. Selbst Lukas, der bereits ein Jahr älter war als alle anderen und mit seinen Mitschülern nichts am Hut hatte, ließ sich zu einem kurzen Gespräch herab, weil sie neben Tanne saß.
»Mit dem Pferdegesicht wirst du noch Ärger haben«, prophezeite er Nele. »Falls du einen Pferdeäpfelwerfer brauchst, sag Bescheid«, meinte er cool.
»Was redet ihr denn die ganze Zeit über so eklige Pferdeäpfel?«, fragte Nele verwirrt.
Tanne grinste. »Na, Josefine hat doch als Einzige von allen ein eigenes Pony und hängt immer im Reitstall herum. Deshalb hat sie von uns den Spitznamen Klassenpony bekommen. Und als sie am ersten April unseren Klassenstreich beim Herrn Direktor verpetzt hat, haben wir ein paar Pferdeäpfel aus dem Stall gemopst und ihr in die Schultasche gestopft.«
Nele verzog angeekelt die Nase. »Das war aber nicht nett.«
Tanne nickte. »Schon klar. Aber Josefine ist zu uns auch nicht nett. Danach gab es eine kleine Pferdeäpfelschlacht auf dem Schulhof… das roch vielleicht lecker.« Sie hielt sich kichernd die Nase zu. »Seitdem will niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben. Sie ist letzte Woche neun Jahre alt geworden und hat niemanden aus der Klasse zu ihrem Geburtstag eingeladen. Angeblich sind ihre Eltern mit ihr in einem Disney-Vergnügungspark gewesen, zusammen mit ihren zwei kleinen Kusinen. Die sind gerade mal fünf. Total öde, finde ich.«
Nele nickte. Das hörte sich wirklich schrecklich an. Wäre Josefine nicht gleich so fies zu ihr gewesen, hätte sie sogar
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