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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Persona Verlag
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in den Ecken des Friedhofs ziehe. Medikamente gibt es schon lange nicht mehr. Sie glüht vor Fieber, ihr Atem geht unregelmäßig. Ich wechsle die Verbände, wickle sie in alle Decken, die ich besitze, und schweige.
    Schweigen. Schweigen ist das einzige, was ich gut beherrsche.
    Heiliger Stanislaw, der du einst einen Jungen gerettet hast, der in einen Brunnen gefallen war, Patron der gebrochenen Glieder, hilf mir. Du bist auch ein Mensch.
    Vater im Himmel, wenn ich wüsste, dass auch du verzweifelt bist, wäre meine Verzweiflung geringer.
22. September 1943
    Ich habe sie in den Arm genommen, habe ihre geheimen Körperteile mit meinem Hemd bedeckt und sie in eine Waschwanne gesetzt, deren Wasser ich mit heißen Backsteinen erwärmt hatte.
    Erschrick nicht, Mädchen. Am zweiten Tag schied der Schöpfer zwischen Wasser und Wasser. Zwischen dem unter der Feste und dem darüber. Und dann befahl er dem Wasser, sich zu sammeln. Auch in deinem Körper sammelt sich das Wasser. Hier, ich habe Honig und die Blätter des Haselnussstrauchs und Thymian hineingetan, um dich zu stärken.
    Das Mädchen zittert so, dass die Wanne bebt. Etwas Wasser spritzt heraus. Ich hülle ihren wundenbedeckten Körper in ein schwarzes Tuch. So hat man früher die Leprakranken eingehüllt.
23. September 1943
    Im hintersten Schrank fand ich die schwarzen Kleider einer Novizin. Sie sind ihr zu groß, und ich sitze in der Dunkelheit und nähe. Meine Bewegungen sind ungeschickt, ich steche mich in die Finger. Ich fühle, wie das Blut herunterrinnt, aber ich mache mir nicht die Mühe, es abzuwischen. Den Bewohnern werde ich erzählen, ich hätte eine kleine Verwandte aufgenommen, deren Mutter bei den Bombenangriffen umgekommen sei, und ihr Vater, ein Soldat, sei schon seit zwei Jahren vermisst.
    Sie ist erst seit ein paar Tagen bei mir, und schon hat sich alles verändert. Ich bin mir seither selbst fremd geworden. Ein Mädchen in einem Haus, in dem es noch nie Kinder gegeben hat. Ich habe nie eine Frau erkannt und nie ein Kind geboren. Meine Lenden sind ausgetrocknet. Vor vielen Jahren habe ich den Zölibat auf mich genommen. Woher kann ich wissen, wie ich für sie sorgen soll? Sogar der erste Mensch lernte erst, wie es ist, ein Sohn zu sein, bevor er Vater wurde. Und Christus war nie ein Vater, aber er war ein Sohn. Und ich, der ich nie Sohn und nie Vater war, woher soll ich das Wissen nehmen?
    Während meines Studiums im Priesterseminar hatte ich einen wiederkehrenden Traum: Ich bin ein alter Mann mit weißen Haaren und sitze in einem lichtdurchfluteten Raum meinem Enkel gegenüber. Der Junge hält ein Notizbuch auf den Knien und schreibt etwas hinein. In meinem Traum weiß ich, dass die Worte, die er aufschreibt, nicht aus meinem Mund kommen, denn ich schweige. Und auch als ich etwas sagen will, Wörter der Zärtlichkeit, bin ich mit Stummheit geschlagen. Mein Herz schlägt für diesen Jungen, aber ich kann nicht zu ihm sprechen. Sogar meine Hände, die sich danach sehnen, ihn zu umarmen, sind gelähmt. Beim Aufwachen fühlte ich mich schuldig und ging zu meinem Beichtvater. Dieser sagte: Das Bedürfnis, ein Kind zu zeugen, kann man nicht über Nacht aus sich herausreißen. Es waren viele, viele Beichten nötig, um diesen Traum verschwinden zu lassen …
24. September 1943
    Sie scheut das Licht. Der geringste Lichtschein stört sie. Ich habe den Vorhang vorgezogen, sodass noch nicht einmal das Mondlicht hereindringt, und ich habe alle Kerzen ausgeblasen. Doch sogar in der Dunkelheit krümmt sie sich zusammen, wenn ich mich ihr nähere. Auf meine Fragen gibt sie keine Antwort. Ich wollte wissen, wer sie ist. Ich habe sie angefleht, es mir zu sagen. Ihre Weigerung ist ein ermutigendes Zeichen. Vielleicht ist der letzte Widerstand noch nicht in ihr erloschen, vielleicht flackert noch ein winziger Lebensfunke. Kann es sein, dass sie vergessen hat, wer sie ist? Vielleicht hat sie ja auch die Fähigkeit zu sprechen verloren. Bei uns im Dorf ist es den Kindern verboten, in einen Spiegel zu schauen, damit sie als Erwachsene nicht stumm werden. Aber dieses Mädchen hat in dem Erdloch sein Spiegelbild nicht gesehen, es wurde nur vom Körper des Bösen besiegt. Ich bin nicht wie er, verspreche ich ihr immer wieder. Ich weiß, dass sie mich hört.
    Wie kann ich den schwarzen Schlamm von ihrer Seele lösen? Mit keinem Gebet wird es gelingen.
    Aus Hilflosigkeit, vielleicht auch aus Torheit, erzähle ich ihr von meiner Kindheit, leihe ihr vorläufig einige meiner

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