Und die Ratte lacht - Roman
eigenen Erinnerungen. Das ist mein Bett, und dort sind Zudecken, gefüllt mit Gänsefedern. Die Zudecken sind weich und mit Spitzen besetzt. Ich schiebe die Finger in das feine Gespinst, habe Angst, es zu zerreißen. Das sind meine Hausschuhe, sie stehen immer auf dem Vorleger. Stanislaw, geh nicht barfuß, damit du dich nicht erkältest. Geburtstagskuchen hatte ich keinen. Ein fremdes Kind bläst die Kerzen einzeln aus, statt alle auf einmal. Jemand lacht. Vielleicht meine Großmutter. Dieser andere Junge bekam ein Schaukelpferd geschenkt, und ich das Alte Testament mit Bildern. Moses steigt vom Berg herab, in den Händen die Gesetzestafeln. Sein Gesicht ist ernst, aber barmherzig. Bestimmt sieht so mein Vater aus … ich habe ihn nie gesehen.
Ich wähle nur die guten Erinnerungen aus, die anderen habe ich begraben. Meine Mutter schwebt zwischen ihnen herum, aber ich wage nicht, sie zu erwähnen.
Mutter – eine schmerzhafte Erinnerung. Ich darf nicht daran denken.
Ich finde keinen Schlaf. Bis das Mädchen einschläft, bin auch ich dazu verurteilt, wach zu bleiben. Jede Nacht sitze ich zu ihren Füßen und schreibe. Mein Körper ist verschwunden, sogar meine Hände werden von der Dunkelheit verschluckt. Nur die Blätter des Tagebuchs leuchten blass.
25. September 1943
Heute hat sie etwas gegessen. Langsam, ganz langsam habe ich ein paar Löffel Gerstenbrei in ihren Mund geschoben. Und sie hat sich nicht erbrochen. Ich habe die Kirchenvorsteher gebeten, für mich ein Huhn und ein paar Eier zu besorgen. Sie schauten mich erstaunt an. Noch nie habe ich um Essen gebeten. Ich sagte, das liege am Krieg, und niemand wolle einen schwachen, erschöpften Priester. Am Schluss brachte mir Soscha, die Wirtin, einen Hühnerschenkel und ein einziges Ei. Dafür segnete ich sie und ihre Familie für die nächsten sieben Generationen.
Die Wunden des Mädchens fangen an zu heilen. Ich wechsle die Verbände und spreche ihr gut zu. Bald wirst du auf deinen Beinen stehen können. Bald wirst du spielen. Das tun Kinder gewöhnlich. Aber meine Versprechungen klingen falsch, sogar in meinen eigenen Ohren.
Nur ihretwegen denke ich zurück an den fernen Bezirk, den man »Kindheit« nennt. In meiner Naivität hatte ich geglaubt, dass die Kinderjahre bei allen ähnlich sind. Über ein kleines Kind ergießen sich unendliche Sanftheit und Wärme. Warum ist alles zerstört worden?
Wann wurde aus dem süßen Knaben mit den rosigen Wangen ein reißendes Tier?
26. September 1943
Was ist von ihrer Kindheit übrig? Ich weiß nicht, was sich in der kleinen Erinnerung befindet, die ausgestreckt neben mir liegt. Wer wird mir helfen, in die Leere ihrer Gedanken den Samen der Unschuld zu legen? Die weiche Decke, mit der ich sie wärme, die Kerzenflamme, die Licht auf die Wand wirft, die Nahrung, die ich zu ihrem Mund führe – wo beginnt die Hilfe für eine zerstörte Erinnerung? Ist noch ein winziger Halt da, an den sie sich klammern kann, dass Echo kleiner Freuden, die sie in der Vergangenheit einmal erlebt hat? Die Umarmung eines Vaters, die ausgestreckten Arme einer Mutter, eine Tasse Milch und ein Keks, eine Puppe, ein Geburtstagskuchen. Wo haben sich Gutenachtküsse und Schlaflieder versteckt? Ich versuche, sie in mir selbst zu finden. Alles, was ich brauche, ist eine einzige Erinnerung, dann werden eine zweite und dritte folgen. Und schon rollt ein Bündel Erinnerungen vor mir, damit ich mir daraus die Wegzehrung sammle, ohne die ich nicht der wäre, der ich bin. Die düsteren Erinnerungen schiebe ich zur Seite, denn auch sie stehen auf der Schwelle. Wie der Erzengel Michael wiege ich jetzt die guten Taten gegen die bösen auf und betrachte die Waagschalen, welche Seite sich nach unten neigt.
Wenn sie die Erinnerungen von einem anderen hätte, dann …
27. September 1943
Ich habe sie in die Sachen der Novizin gekleidet und ihr die Kapuze über den Kopf gezogen. Es gab keinen Grund, ihr zu sagen, sie möge sich vor Fremden verstecken. Ihre Sinne sind geschärft. Sie ist vollkommen still. Als ich ihr das Kreuz um den Hals hängte, schüttelte sie es wild. Es sah aus, als wolle sie einen Strick abschütteln. Ich sagte, das Kreuz würde sie schützen – vorläufig.
Ich fragte sie, bei welchem Namen ich sie nennen solle. Sag es mir. Ich schwöre, ich werde deinen Namen für mich behalten.
Als ich sie fragte, wie ihre Mutter sie genannt habe, drehte sie mir sofort den Rücken zu. Ich gab auf.
29. September 1943
Gedenktag der Erzengel
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