Und die Ratte lacht - Roman
Michael, Gabriel und Raffael
Ich habe es fast geschafft, die Erinnerung daran, wie ich geweint habe, auszuradieren. Sogar als meine Großmutter …
Ich war in der Stunde ihres Todes nicht bei ihr.
Das Mädchen weint nicht.
Sogar die Tiere weinen.
4. Oktober 1943
Gedenktag des heiligen Franziskus
Ganz allmählich tastet sie sich einen Weg. Zuerst kam sie aus der Nische heraus. Dann unternahm sie ein paar Schritte durch meine Schlafkammer. Plötzlich erkenne ich, wie nackt die Wände sind, abgesehen von dem Kruzifix über meinem Bett. Eine düstere Kammer. Düster und asketisch. Schnell hole ich einige Ikonen von den staubigen Regalbrettern in der Sakristei und verteile sie an den Wänden. Ein Kind braucht etwas Schönes, rechtfertige ich mich vor mir selbst und vor den gemalten Heiligen, den einzigen Menschen, denen ich vertraue.
Von Zeit zu Zeit wirft sie verstohlene Blicke auf die Ikonen. Aber die Wand ihrer Nische hat sie mit ihrem Körper geschützt, damit sie leer bleibt.
Am Abend entdecke ich, dass das Bild der Geburt Christi in Bethlehem sie fasziniert. Sie fährt mit dem Finger über den Ochs und den Esel, danach legt sie die Ikone vorsichtig auf den Fußboden, dreht sie um und beugt den Rücken.
Sie wäre besser in einem Nonnenkloster untergebracht.
7. Oktober 1943
Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz
Ich gab dem Mädchen das Kruzifix über meinem Bett. Ich drehte es um, warf es in die Luft und fing es wieder auf, aber sie weigert sich, damit zu spielen. Das Bild der Heiligen Mutter mit dem Kind legte sie sofort zur Seite. Mit Gewalt gelang es mir, ihr einen Rosenkranz in die Finger zu drücken. Ich bete für sie die Worte des heiligen Franziskus. Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens, dass ich liebe, wo man hasst, dass ich Freude bringe, wo Kummer wohnt, dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht, dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält, dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert.
Ich halte inne. Sage es mir nach, Mädchen. Wenn wir diese Worte immer wieder sprechen, können wir sie vielleicht glauben. Wir werden uns gemeinsam bemühen, zu glauben, denn allein habe ich keinen Glauben.
Das Echo meiner Stimme kommt zurück, spöttisch und verzerrt. Obwohl ihr Körper sich wieder bewegt, ist ihr Mund noch verschlossen. Zum Schlafen dreht sie sich zur Wand in der Nische. Als sei ihre Anwesenheit hier oder irgendwo anders zweifelhaft.
15. Oktober 1943
Obwohl sie noch immer schweigt, geht sie in der Kirche herum. Sogar die Zipfel ihrer Kleidung flattern lautlos. Sie hat sich eingewöhnt, als wäre sie schon immer an diesen Ort gewesen. Sogar wenn ich meine Pflichten im vorderen Teil der Kirche erfülle, spüre ich ihre Anwesenheit im hinteren. Heute Morgen hat sie die Dielenbretter gereinigt und den Blumen frisches Wasser gegeben. Dann hat sie das große Kruzifix vor dem Altar abgestaubt. Bis zu den Fingern seiner genagelten Hand ist sie nicht gekommen. Vielleicht hat sie sie auch übergangen.
Wenn jemand von der Gemeinde hereinkommt, spürt sie das immer rechtzeitig und verschwindet wie vom Erdboden verschluckt. Die Gegend ist voller Verräter, und ich weiß, dass die Soutane mir keine Immunität garantiert. Wenn die Identität des Mädchens herauskommt, werde ich das mit meinem Leben bezahlen. Und was geschieht dann mit ihr?
Und dennoch – das Leben ängstigt mich mehr als der Tod.
Die Welt um uns herum schläft. Kein Hahn kräht, kein Hund bellt, und sogar die nächtlichen Raubtiere lassen ihre Beute in Ruhe. Ich lege sie auf mein Lager, aber sie entschlüpft zu ihrer Nische. Ihre Augen brennen. Was sieht sie in der Dunkelheit? Wenn ich nur wüsste, wie man ihr die bösen Erinnerungen herausreißt.
Erinnerung. Der schmerzhafteste Körperteil. Schmerzt fast noch mehr als das Ereignis selbst.
Woher soll ich wissen, was ein Mensch fühlt, dem man die Erinnerung entrissen hat? Meine Mutter stieß sich eine Nadel in den Leib. Sie schluckte eine Mischung aus Schießpulver, Wodka und Asche, um mich loszuwerden. Und wer war mein Vater?
Ich springe von meinem Lager und renne hinaus, um mich zu übergeben.
1. November 1943
Allerheiligen
Ich werfe mich herum. Jede Faser meines Körpers schreit nach Schlaf, aber wenn ich die Augen zumache, überfallen mich Befürchtungen dessen, was jederzeit geschehen kann. Die Mörder dringen in die Kirche, sie treten gegen die Türen, zerschmettern die heiligen Gegenstände und ertränken sie im Taufbecken. »Nun möget ihr
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