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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Persona Verlag
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hinfort ihm desto mehr vergeben und ihn trösten, auf dass er nicht in allzu große Traurigkeit versinke.« Ich springe von meinem Lager, drücke meine Knie auf den Boden und wiederhole wie ein Wahnsinniger die Worte Paulus’ im Brief an die Korinther. Was bleibt mir anderes als die Gebete, die ich mein Leben lang gesagt habe? Ich klammere mich an sie, weil ich keine andere Wahl habe, versuche, mich zu überzeugen, dass sie von Menschen wie mir geschrieben wurden, lächerlichen Menschen, die ihre Körper und Seelen der Verzweiflung überlassen.
2. November 1943
    Allerseelen
    Wann wird sie sprechen? Ich habe Angst, dass ihr nie ein Wort über die Lippen kommen wird, deshalb kann ich nicht aufgeben. Aber die heilenden Erinnerungen kommen nicht so leicht, deshalb bin ich gezwungen, sie in den hintersten Ecken aufzuspüren. Spielsachen hat mir meine Großmutter nicht gekauft. Dazu war sie außerstande. Um mich zu trösten, sagte sie, wer zu viel lacht, wird hinterher weinen. Ich versteckte mein Gesicht im Kissen, um das dumpfe Misstrauen zu verbergen, das in mir aufstieg. Niemand wird mich trösten in den Momenten der Not. Damals wusste ich kein Wort dafür. Sogar im Priesterseminar umklammerte ich heimlich die Zudecke und bildete mir ein, mich an den Stuhl der Heiligen Mutter zu klammern. Ich drückte mein Gesicht an die Wand, damit keiner mein Weinen hörte. Ich würde alles für dich tun, Mutter, wenn du mir nur erlauben würdest, in deiner Nähe zu sein. Ich habe solche Angst, darf es aber nicht zugeben. Ich möchte nach Hause gehen.
    In dieser Nacht kommen die Toten zur Erde zurück und besuchen ihre früheren Häuser. Wenn ich in das Dorf meiner Kindheit zurückkehrte, würde mir vielleicht meine Großmutter erscheinen.
    Und meine Mutter.
    Die Bettler hatten sich in zwei Reihen vor der Kirche aufgestellt, und alle Dorfbewohner gaben Almosen. Die Frauen reichten ihnen kleine Brotlaibe.
    Um Mitternacht wird die Kirche hell erleuchtet sein, und ich werde auf die Geister der Toten warten, damit sie vor dem Altar niederknien und beten können. Ich werde vergeblich warten. Diese Kirche werden sie nicht besuchen. Alle Türen und Fenster im Dorf werden geöffnet sein, um sie zu empfangen. Von allen Seiten werden die Rufe zu hören sein: »Kommt zu uns, lasst euch bewirten mit allem, was wir haben. Kommt zu uns, Seelen.«
    Gastfreundschaft für die Toten, und den Lebenden schlagen sie die Tür vor der Nase zu.
    Das Mädchen hört zu. Fast hätte sie etwas gesagt.
10. November 1943
    In den letzten Nächten hat sie damit begonnen, die Fußbodenbretter zu entfernen und in der Erde darunter zu wühlen. Und obwohl ich nicht verstehen kann, was sie tut, empfinde ich eine seltsame Erleichterung. Vielleicht sucht sie dort etwas.
    Ich habe schon lange aufgehört, dich um Zeichen zu bitten, ich suche sie mir selbst.
    Ich schaue zu, wie das Mädchen eine Handvoll Erde nimmt und sie zwischen den Fingern hält. Auch ich war einmal ein Kind, das im Schlamm gespielt hat. Meine Großmutter schimpfte immer, mach dich nicht schmutzig, Stanislaw. Gott sieht dich überall.
    Das Mädchen knetet die Erde, formt sie wie Ton. Sie reißt Stücke von dem Brot ab, das ich ihr gegeben habe, und stopft sie hinein. Die Erde zerfällt, sie drückt sie wieder zusammen. Ihre kleinen Hände verschwinden in dem Erdbrocken. Pass auf, Stanislaw, Gott befindet sich auch im Schlamm, er sieht alles, was du tust, jetzt, nicht am Tag des Jüngsten Gerichts.
    Plötzlich fällt ihr etwas ein. Sie beugt sich vor, gibt aber noch immer keinen Ton von sich. Sie vergräbt ihr Gesicht in der Erde, reibt sie sich über den stoppeligen Schädel.
    Ich bin überwältigt, weiß aber nicht, wovon. Vielleicht ist es die Sünde, die mich blendet.
    Was ist es, was in den Rudimenten ihrer Erinnerung aufflackert? Auch wenn ich Zeuge der Schöpfung gewesen wäre, hätte ich es nicht verstanden.
    Warum hast du das Mädchen in die Hände eines Unwissenden gegeben?
11. November 1943
    Gedenktag des heiligen Martin
    Die wenigen Geschichten, an die ich mich erinnere, hat mir meine Großmutter erzählt. An den Winterabenden saß sie im Schaukelstuhl, flickte Kleidungsstücke oder spann Wolle und erzählte mir vom Leben der Heiligen. Ich sagte zu dem Mädchen, wenn der heilige Martin auf einem weißen Pferd geritten kommt, dann ist das ein Zeichen, dass auch wir bald von Schnee bedeckt werden.
    Sie krümmte sich in der Grube zusammen, die sie sich in meiner Kammer gegraben hat, und bedeckte

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