Und eines Tages kommt das Glück
schon immer wichtiger als das, was in einem Menschen steckt.«
Veronica sagte nichts, sondern machte sich an den Cremetöpfchen auf der Kommode zu schaffen.
»Tut mir leid«, sagte Romy nach einem Moment angespannten Schweigens. »Kann ich noch irgendetwas für dich besorgen? Ein Buch, Zeitschriften, Obst?«
»Noch bin ich nicht völlig hilflos und nutzlos«, erwiderte ihre Mutter. »Ich werde später selbst zum Kiosk hinuntergehen.«
»Gut, in dem Fall mache ich mich jetzt auf den Weg.« Romy wusste, dass sie es keine Sekunde länger mehr aushielt. Trotz ihres gegenseitigen Versprechens, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen, befürchtete sie, dass entweder sie oder ihre Mutter etwas sagen könnte, das sie bereuen würden.
»Schön«, meinte Veronica, »und vergiss nicht, meine Sachen umzuräumen.«
Am Abend zuvor hatte Veronica widerwillig zugestimmt, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus im Gästezimmer im Parterre zu schlafen, bis sie wieder in der Lage wäre, Treppen zu steigen. Romy hatte vorgeschlagen, den Umzug gleich hinter sich zu bringen, aber Veronica hatte sich plötzlich fürchterlich aufgeregt und darauf bestanden, die letzte Nacht zu Hause im eigenen Schlafzimmer zu verbringen. Bestürzt über die offenkundige Empfindlichkeit ihrer Mutter, hatte Romy angeboten, alles in Ruhe umzuräumen, während Veronica im Krankenhaus war.
»Ich vergesse es schon nicht. Sobald ich zu Hause bin, fange ich damit an.«
»Aber geschnüffelt wird nicht«, sagte Veronica scharf.
»Mam, ich bitte dich, entspann dich!« Romy öffnete die Tür. »Mir würde es nicht im Traum einfallen, in deinen Sachen zu wühlen, und dein Zimmer werde ich auch nicht durchsuchen. Ist mir doch egal, was du da versteckt hast!«
Veronica zuckte die Schultern, und Romy atmete tief durch.
»Dann gehe ich jetzt«, wiederholte sie. »Viel Glück. Wir sehen uns morgen.«
»Bis dann«, sagte Veronica.
Romy zögerte einen Moment, ehe sie aus dem Zimmer ging. Als sie einen letzten Blick zurückwarf, sah sie, dass Veronica in den Spiegel neben dem Bett starrte und an der Haut unter ihrem Kinn zupfte. Romy überlegte, ob sie wohl den Chirurgen bitten
würde, gleich noch ein Gesichtslifting zu machen, wenn sie schon einmal hier war.
Im Krankenhaus war Romy der Verzweiflung nahe gewesen, aber als sie jetzt wieder in dem Haus in Rathfarnham war, empfand sie fast so etwas wie Mitleid für Veronica. Sie wusste, dass ihre Mutter Krankenhäuser verabscheute, sogar teure Privatkliniken mit Einzelzimmern und täglicher Menüwahl. Veronica hasste es generell, krank zu sein. Sie konnte nicht damit umgehen, an ihre eigene Sterblichkeit erinnert zu werden. In Romys Erinnerung war es immer Dermot gewesen, der sie umsorgt hatte, wenn es ihr als Kind nicht gut gegangen war. Dermot hatte an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten, wenn sie nicht allein sein wollte. Und als sie einmal krank (ein schlimmer Brech-Durchfall, der sie praktisch ans Badezimmer gefesselt hatte) und ihr Vater aus beruflichen Gründen nicht zu Hause gewesen war, da hatte Kathryn sich um sie gekümmert. Wie sie nun einmal war, hatte Kathryn die Krankenpflege tüchtig und emotionslos erledigt. Sie hatte ihrer kleinen Schwester zwar die nötigen Medikamente gegeben, jedoch keinerlei Mitgefühl gezeigt, dafür aber interessiert Romys Symptome mit der Aufzählung in dem medizinischen Handbuch verglichen, das immer in ihrem Zimmer stand.
Der Kessel pfiff, und Romy goss kochendes Wasser über den Teebeutel in dem blauen Becher auf der Küchentheke. In den letzten paar Jahren hatte sie nur selten Tee getrunken, aber wieder zu Hause, genoss sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. In ihrer Kindheit hatte es ständig Tee gegeben, und jetzt, da die Antiaging-Wirkung von Tee in aller Munde war, stellte Veronica beglückt fest, dass sie, die ihr Leben lang eine eifrige Teetrinkerin gewesen war, davon in Zukunft wahrscheinlich profitieren würde.
Romy nahm einen Schokoladenkeks aus der Tupperware-Box und legte ihn auf den Teller neben dem Becher. Das Ticken der Uhr hallte laut in der Küche wider, und Romy schaltete das Radio ein, um es zu übertönen. Es war wirklich ein seltsames Gefühl,
völlig allein im Haus zu sein. Sie kam sich vor wie ein Eindringling, wie eine Fremde, die ihre Nase in die Geheimnisse der Bewohner steckt. Denn für sie war das hier längst nicht mehr ihr Zuhause. Es fühlte sich nicht mehr so an.
Aber eigentlich war das auch früher nie der Fall
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