UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
anstarren konnte.
Das Wasser, das stoßweise aus dem spuckenden Wasserhahn kam, war rötlich. Er drehte es weiter auf, und nach einiger Zeit verwandelte sich das Spucken in einen kräftigeren Strahl, der zwar nicht richtig klar war, aber zum Zähneputzen reichen musste. Er untersuchte den Inhalt des Spiegelschranks: Kinder-Aspirin, Ablaufdatum 1992. Ein Fläschchen Jodtinktur, dessen Verschluss eingerostet war. Und natürlich eine der unzähligen Spritzen, die ihm als Kind verabreicht worden waren. Er warf alles in den Mülleimer.
Nach nochmaliger Überlegung fischte er das Kinder-Aspirin wieder heraus und steckte es in seine Hosentasche.
Er hielt den Kopf unter das Wasser, rubbelte sich mit einem Handtuch trocken und setzte die Brille wieder auf. An Rasieren, geschweige denn seine Kontaktlinsen, war noch nicht zu denken. „Kaffee“, murmelte er, legte sich das Handtuch um den Hals und wankte hinunter in die Küche.
Wie erwartet war seine Mutter überall im Haus präsent – und das, obwohl sie seit gut zwölf Jahren nicht mehr hier gewesen war. Die Villa und der Garten waren immer noch gut gepflegt, denn das Anwesen der Montgomerys durfte natürlich – Gott behüte! – auf keinen Fall heruntergekommen aussehen.
Als er am Schlafzimmer seiner Eltern vorbeiging, kam es ihm vor, als könne er den typischen Duft seiner Mutter immer noch wahrnehmen – Chanel Nr. 5 und Dunhill-Zigaretten. Ihr Sinn für Stil und Geschmack war in den weißen Bilderrahmen an den Wänden des Treppenhauses ebenso allgegenwärtig wie in der Küche, wo das Geschirr ordentlich in den Schränken stand. Er öffnete die Tür zur Speisekammer und fand dort ein paar rostige Dosen Thunfisch und Sardellen, Bohnen, Campbell-Suppe und natürlich jede Menge Gläser mit Oliven, die Mom für ihre Martinis gehortet hatte. Aber keinen Kaffee.
Im Kühlschrank befand sich nur das Sixpack Narragansett-Bier, das er gestern direkt nach seiner Ankunft hineingestellt hatte. Er betrachtete das Bier eine Weile. Dann sah er auf die Uhr am Herd – 10 Uhr 30. Der Kühlschrank begann zu brummen, als wollte er Alex drängen, sich langsam zu entscheiden.
„Auch schon egal“, murmelte er, schnappte sich eine Dose Bier, öffnete sie und nahm einen Schluck. Wenigstens war es schön kühl.
Er kratzte sich die nackte Brust, ging auf die Veranda hinaus, von der man aufs Meer sah, und setzte sich in einen der schon etwas ramponierten Korbsessel. Die Sessel hatten seit ewigen Zeiten keine Kissen mehr gesehen und würden es vielleicht nun auch nie mehr tun. Früher hatte seine Mutter immer dafür gesorgt, dass das Haus vor dem Memorial Day Ende Mai für die Sommerferien hergerichtet und die Speisekammer aufgefüllt wurde.
Dieses Jahr nicht. Auch im nächsten Jahr würde es nicht so sein. Nie mehr.
Gestern hatte er bei seinen Freunden Trost gesucht. Bei Menschen, die ihn seit Jahren kannten und denen eigentlich etwas an ihm liegen sollte. Doch ihre Art, ihn mit Alkohol zu trösten, hatte wenig geholfen. Alles, was er empfunden hatte, war eine dumpfe Teilnahmslosigkeit gewesen. Und Ärger darüber, dass Natalie Jacobson ausgerechnet am gestrigen Abend den Versuch gestartet hatte, ihn anzubaggern.
Bedeutungsloser Sex war schon okay, auch wenn die eigene Mutter gerade gestorben war. Doch als er den hungrigen Blick in Natalies Augen gesehen hatte, konnte auch der Wein das leichte Gefühl des Selbstekels nicht verdrängen.
Außerdem hatte er die ganze Zeit Rosa Capoletti nicht aus dem Kopf bekommen. Dabei hatte er ja eigentlich geglaubt, dass ein Wiedersehen die alten Gefühle für sie vertreiben würde. Bei Tageslicht betrachtet natürlich eine absolut absurde Idee, doch gestern Abend war ihm dieser Gedanke – wohl aufgrund des Alkohols – durchaus logisch erschienen.
Er hätte wissen müssen, dass es so nicht funktionierte. Rosa war etwas Besonderes für ihn, und zwar auf eine Art, die nicht einmal er selbst ganz verstand. Sie wiederzusehen hatte das nur bestätigt. Er hatte es in dem Moment gewusst, als er sie im Restaurant erblickte. Sie und die Nautilus-Muschel, die einen Ehrenplatz über der Bar einnahm. Dass Rosa die Muschel noch besaß, hatte ihn zum Nachdenken gebracht.
Er nahm noch einen Schluck Bier und zog das Handtuch von seinen Schultern. Es war jetzt schon ein heißer Tag, doch hier auf der Veranda war es noch angenehm. Er ließ den Blick über das Anwesen schweifen – jenen Ort, wo früher Familienfeste und elegante Partys gefeiert worden waren.
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