UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
sagte sein Vater. „Die ganze Sache ist absolut deprimierend.“
Madison lachte hysterisch auf. „ Deprimierend ?Um Himmels willen! Das klingt so, als wären deine Aktienkurse abgestürzt oder als hättest du Pech beim Golf gehabt. Deine Frau hat sich das Leben genommen, und du bezeichnest das als de primierend ?“
„Madison“, unterbrach er sie, „es reicht.“
„Ich habe noch gar nicht richtig angefangen.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe keine Ahnung, wie ich mit dieser Tragödie fertig werden soll, und von dir kommt einfach nichts, Dad. Von dir auch nicht, Alex.“
„Hast du keinen Therapeuten, der dir hilft?“
„Das ist nicht witzig, kleiner Bruder.“
„Es ist mein Ernst. Ich weiß genauso wenig wie du, wie ich damit fertig werden soll.“ Obwohl das nicht ganz stimmte. Er wusste es, doch er war noch nicht bereit, darüber zu reden.
„Wir sind lächerlich.“ Sie stand auf und ging in die Küche. Dort sah sie sich um, als wolle sie sich vergewissern, dass keine Geister da waren. „Hast du was zu trinken im Haus?“
„Nur Bier.“ Er sah seinen Vater fragend an.
„Nein, danke.“
„Bier klingt wunderbar“, sagte Madison.
Er hörte erst die Kühlschranktür, dann das Zischen einer Bierdose. Madison kam ins Wohnzimmer zurück, setzte sich wieder und begann sofort zu trinken. Sie streckte ihre rechte Hand aus und betrachtete ihre Finger. „Ich habe mir beim Öffnen der Dose einen Nagel abgebrochen.“
„Der wächst wieder nach“, sagte Alex. Dann sah er ihr schweigend zu, wie sie noch einen Schluck Bier nahm.
„Deine Freundin …“, begann sie, „wird sie es herumerzählen?“
„Wie bitte?“
„Diese Roseanne Rosannadanna.“ Madison deutete mit dem Kopf zur Haustür.
„Meine Güte, Maddy …“
„Es ist mein Ernst. Dad und ich haben es niemandem erzählt.“
„Es war mein Wunsch“, erklärte sein Vater. „So ist es für uns alle am besten. Es besteht kein Anlass, diese Tragödie publik zu machen.“
Am besten , dachte Alex, der spürte, wie er schon wieder zornig wurde, am besten wäre, wenn das alles gar nicht passiert wäre. Aber so war nun mal das Leben. Wie sagte Roseanne Rosannadanna immer? Man weiß nie, was das Leben für einen bereithält.
„Ich will auch nicht, dass es jemand erfährt“, sagte Madison. „Oh Gott, ich hoffe, dass diese Frau es niemandem auf die Nase bindet.“
Alex hätte ihr gern versichert, dass Rosa niemals zu so einer Indiskretion fähig wäre. Aber Tatsache war, dass er eigentlich nicht wusste, ob das wirklich stimmte. „Wenn sie noch so ist wie früher, wird sie es niemandem sagen.“
„Meine Güte, du bist so naiv, Alex. Alle Menschen verändern sich, das solltest du selbst am allerbesten wissen.“
„Was meinst du mit ‚du selbst am allerbesten‘?“
Madison stand auf, ging mit der Bierdose in der Hand zum Kamin und zog die Tücher von den Nippesfiguren, Vasen, Fotografien und der Kristallschale, die auf dem Sims standen. „Ah, da haben wir ja den Beweis. Schau mal! Wenn das nicht naiv ist, dann weiß ich auch nicht.“ Sie nahm eines der gerahmten alten Fotos und reichte es ihm.
Alex hatte das Gefühl, als sähe er einen Fremden. Doch es war kein Fremder, denn auf der Rückseite des silbernen Bilderrahmens stand in der engen, sauberen Schrift seiner Mutter: Alexander IV, Sommer 1983 . Das Foto zeigte einen für sein Alter viel zu schmächtigen, bleichen Jungen. Zu der Zeit, als das Foto gemacht wurde, hatte er natürlich nicht gewusst, wie krank er tatsächlich gewesen war. Seine Mutter hätte niemals zugelassen, dass er es erfuhr. Doch jetzt sah er sehr wohl, wie sehr ihn die Krankheit gezeichnet hatte.
Die Aufnahme war hier in der Bibliothek gemacht worden – jenem Ort, wo er sich am liebsten aufgehalten hatte, wenn er nicht nach draußen durfte. Auf dem Foto war er ganz in Weiß gekleidet – was daran liegen mochte, dass seine Mutter fasziniert von dem Film „Der große Gatsby“ gewesen war, den sie sich damals auf Video gekauft und ständig angesehen hatte. Es war ihre allererste Videokassette gewesen. Im Gegensatz zum großen Gatsby hatte Alex mit seinen zehn Jahren allerdings ganz in Weiß wie ein Gespenst ausgesehen. Sein Haar war extrem hell und seine Beine waren so dünn gewesen, dass sie wie die zerbrechlichen Knochen eines Vögelchens aussahen. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut aufgrund der Tatsache, dass sein Körper nicht genügend mit Sauerstoff versorgt worden war,
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