UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
Leben und war doch immer eine Fremde geblieben, die im Internat gelebt und im Sommer in irgendein Feriencamp gesteckt worden war. Nach dem College hatte sie sofort geheiratet – reich geheiratet – und sich blitzschnell in eine Hausfrau verwandelt, die ihrem Ehemann den Rücken freihielt. Ihr Mann war Prescott Cheadle, Partner einer Anwaltskanzlei in Boston. Sie hatten zwei Kinder, Trevor und Penelope, die Alex beide furchtbar gernhatte. Doch ihre Mutter, diese selbstbewusste, attraktive Frau, kannte er nicht. Alex bedauerte diesen Umstand plötzlich sehr. Er bedauerte, wie wenig nahe sie sich standen. Niemand hatte ihnen jemals gesagt, dass sie einander eines Tages vielleicht brauchen würden. Und aus irgendeinem merkwürdigen Grund hatten sie das von sich aus nie verstanden.
Und sein Vater … Alex wusste noch immer nicht, was er von ihm halten sollte. An der Oberfläche war er der Inbegriff eines erfolgreichen Menschen – ein einflussreicher Geschäftsmann, der mit seinem ererbten Vermögen ein geradezu gigantisches Firmenimperium geschaffen hatte. Jetzt war er ein Witwer, dessen Frau sich umgebracht hatte.
„Dad, es tut mir leid“, sagte Alex. Es war schwer, die richtigen Worte zu finden.
„Mir tut es auch leid.“
Sie verfielen wieder in Schweigen. Schließlich stand Madison auf und zupfte an den Laken, die noch immer auf den restlichen Möbeln lagen, um sie vor Staub zu schützen. „Wer war die Frau vorhin?“
Sie hatte Rosa nicht wiedererkannt. Madison hatte, genau wie seine Eltern, nie gemerkt, wie wichtig Rosa für ihn gewesen war. Sie war nur die Tochter des Gärtners und damit für die Montgomerys so unsichtbar wie alle Dienstbotenkinder. Madison hatte keine Ahnung, wie viel Rosa ihm bedeutete – hatte nie gemerkt, wie sehr diese Gärtnerstochter vor vielen, vielen Jahren begonnen hatte, sein Leben zu verändern.
Andererseits wusste er selbst auch nicht besonders viel über die Herzensangelegenheiten seiner Schwester.
„Rosa Capoletti“, sagte er.
Madison sagte der Name offensichtlich nichts.
„Pete Capolettis Tochter“, erklärte sein Vater wie ein Quizmaster, der der Kandidatin einen Tipp gibt.
Es überraschte Alex, dass sich sein Vater an Rosa erinnerte. Madison zeigte noch immer keine Reaktion. War es möglich, dass sie sich wirklich nicht erinnerte?
„Mr. Capoletti kümmerte sich um den Garten“, sagte sein Vater, der sich sehr gut zu erinnern schien.
„Oh, der. Jetzt erinnere ich mich. Der nette Italiener mit der Kappe, der bei der Arbeit immer gesungen hat. Hast du damals nicht mit seiner Tochter gespielt?“
„Ja, genau“, sagte Alex. Es schnürte ihm beinahe den Hals zu, wie treffend Madison es – unbewusst – ausgedrückt hatte. Was Rosa wirklich für ihn war, wollte er jetzt nicht erklären. Er konnte es nicht. „Sie war hier, um mir ihr Beileid auszusprechen. Aber warum reden wir nicht über Mutter? Deswegen seid ihr ja gekommen.“
Madison setzte sich wieder. Sie wirkte wie ein Model beim Fotoshooting. Perfektes Make-up, perfekt manikürte Fingernägel, perfekt frisiertes goldblondes Haar.
Sein Vater räusperte sich und reichte ihm einen dicken Umschlag.
Alex gab es einen Stich ins Herz, als er den Bericht herausnahm. Auf dem Deckblatt waren oben das Wappen des Staates New York und unten zwei notariell beglaubigte Unterschriften zu sehen. Die nächste Seite schien das offizielle Ergebnis der Obduktion zu sein. Dann folgte die Sterbeurkunde seiner Mutter – etwas, von dem man immer glaubte, man würde es niemals sehen müssen. Alex überflog den Bericht. Als er las, was ihr Mageninhalt gewesen war, wie viel Gift sie im Blut und welche Dinge sie auf ihrem Nachttisch stehen gehabt hatte, wurde ihm übel.
Seine Hände zitterten, als er den Bericht wieder in den Umschlag schob. „Wusstest du nicht, dass sie unglücklich ist?“, fragte er seinen Vater und fuhr sich verzweifelt durchs Haar. „Hättest du nicht irgendetwas machen können?“
„Irgendetwas kann man immer machen“, entgegnete sein Vater.
Seine Gelassenheit machte Alex aggressiv. „Wo, zum Teufel, warst du, als sie all diese Pillen und diese Unmengen von Alkohol geschluckt hat?“
Sein Vater deutete auf den Umschlag. „Das steht alles da drin. Ich war im Arbeitszimmer.“
„Du hättest ebenso gut auf dem Mond sein können.“
„Möchtest du, dass ich mich schuldig fühle?“, fragte sein Vater.
„Ich möchte nur, dass du irgendetwas fühlst.“
„Ich fühle mich schrecklich“,
Weitere Kostenlose Bücher