UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
sie sich neben ihn stellte, doch Rosa merkte, wie er erstarrte.
„Toll gemacht, Capoletti“, sagte er.
„Ich war es nicht.“
Er drehte sich zu ihr um und warf ihr einen wütenden Blick zu. Rosa erschrak, wie wütend dieser Blick war. Doch in seinen Augen blitzte nicht nur Wut. Sie sah, wie viel Einsamkeit und Verzweiflung darin lagen – und auch ein Schatten jenes Jungen, der einmal ihr bester Freund gewesen war.
„Du warst außer meiner Familie die Einzige, die davon wusste.“ Sein Ton war eisig.
„Offensichtlich doch nicht.“
„Meine Schwester hat Kinder. Es ist schrecklich für sie, dass man es jetzt überall lesen kann. Hast du daran nicht gedacht?“
Sie spürte förmlich, wie alle auf der Terrasse ihre Ohren spitzten. „Mag sein, dass wir uns nicht mehr gut kennen, Alex – aber ich schwöre, dass aus mir kein Mensch geworden ist, der zu so etwas fähig wäre.“
„Ich habe keine Ahnung, was du für ein Mensch geworden bist.“
„So geht es mir mit dir auch“, sagte sie nur mühsam beherrscht. Und wessen Schuld ist das? Sie sprach es nicht aus. Heute nicht. Vielleicht ein andermal, wenn er nicht so wütend und gekränkt war.
„Alex“, sagte sie langsam und sehr ernst. „Ich schwöre bei der Seele meiner Mutter, ich habe kein Wort gesagt. Zu niemandem.“
Er stieß sich von der Bar weg und sah sie lange an. Der Wind rauschte durch das Schilf am Ufer und fuhr ihm durchs Haar. Die Sonne funkelte in seinen Augen, und Rosa spürte, wie seine Wut zusehends verschwand.
Es gab Dinge, deren er sich immer sicher sein würde, was Rosa betraf – egal, wie viel Zeit vergangen oder wie groß die Distanz zwischen ihnen auch sein mochte. Er wusste, dass sie niemals etwas bei ihrer Mutter schwören würde, wovon sie nicht aus ganzem Herzen überzeugt war.
„Ich habe keine Ahnung, wer der Presse diese Information zugespielt hat, Alex“, erklärte sie leise, „aber ich war es nicht. Ich würde nie wollen, dass deine Familie und du wegen deiner Mutter noch mehr Kummer habt, als es ohnehin schon der Fall ist.“
Er ließ sein Handgelenk kreisen, als hätte er einen Krampf. Dann seufzte er tief. „Es wäre alles viel einfacher, wenn ich dir die Schuld geben könnte.“
„Ich war es nicht.“
„Ja, verdammt, das weiß ich.“
„Warum bist du dann so wütend?“
„Wenn du es gewesen wärst, hätte ich jemanden, auf den ich sauer sein könnte.“
„Warum brauchst du jemanden, auf den du sauer sein kannst?“
„Weil das leichter ist, als auf mich selbst sauer zu sein.“
So, nun war es also endlich raus. Rosa wusste, dass die Hinterbliebenen von Angehörigen, die sich selbst das Leben genommen hatten, häufig Wut empfanden. Wut und Schuldgefühle. Sie fragte sich, wie Alex wohl damit fertig werden würde. Er hatte bis jetzt ein sorgloses Leben geführt, das ihn nicht auf Schicksalsschläge wie den tragischen Tod seiner Mutter vorbereitet hatte.
„Woher wusstest du, dass ich im Club bin?“
Sie schnaubte. Tja, die Reichen und Schönen hatten sich im Sommer immer gern dorthin zurückgezogen, wo sie unter sich waren. So ähnlich wie Lachse, die zum Laichen stromaufwärts ziehen. „Nenne es Intuition.“
Er tat ihr jetzt leid. Sie hatte ihm nicht verziehen, nein, noch lange nicht – aber sie hatte Mitgefühl. „Meinst du, wir könnten irgendwo anders hingehen?“, fragte sie. „Wir haben, glaube ich, deine Freunde hier lange genug unterhalten.“
„Vergiss die Leute. Gehen wir ein Stück spazieren?“
Sie seufzte erleichtert auf. Nichts wie weg von hier. „Gerne.“
Sie gingen die Terrassentreppe hinunter, die zur privaten Anlegestelle führte. Rosa spürte die Blicke seiner Freunde in ihrem Rücken. Sie brauchten keinen Grund, sie nicht zu mögen; sie mochten sie einfach nicht. Es war wie mit Rosas Freunden, die Alex ebenfalls aus Prinzip immer abgelehnt hatten.
Sie sah ihn verstohlen von der Seite an. Momentan konnte sie nicht deuten, in welcher Stimmung er gerade war.
Schweigend gingen sie nebeneinander den Kiesweg entlang, den es wahrscheinlich schon ebenso lange gab wie die berühmte Uferpromenade am „Bailey’s Beach“. Rosa tat so, als würde sie nicht merken, wie gespannt die Atmosphäre zwischen ihnen war.
Sie suchte mit den Augen das Strandgut ab, das die Wellen an Land gespült hatten. Doch außer einem Knäuel Angelschnur und hin und wieder einem Haufen Seetang war nichts Besonderes zu entdecken. Alex hatte früher immer ein Auge für die verborgenen Schätze
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