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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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brauchst du doch keine Angst zu haben. Ich gehe gerne dorthin. Vielleicht ist nach dem Kapitel noch Zeit.“
    Während Mathilda neben Elisabeth zum Kapitelsaal herlief, überlegte sie, warum Elisabeth es wohl mochte, an einem offenen Grab an die eigene Vergänglichkeit zu denken?
    Schließlich schüttelte sie den Kopf. Elisabeth war eindeutig ebenfalls makaber.

Vespersorge
     
     
    Georgs Platz im Chor blieb leer. Arno hatte kein einziges Mal direkt hingeschaut – doch die ungewöhnliche Lücke zwischen Simpert Bocksperger und Benjamin, der wegen der Vorkehrungen für das Abendessen regelmäßig als Letzter zu Vesper erschien, prangte vor seinen Augen wie eine helle Schablone, die sich über alles andere schob.
    Die Nonnen hinter ihrem offenen Fenster – für ihn an seinem Platz am Rand sichtbar, wenn er sich ein wenig zur Seite lehnte, um am Altar vorbeisehen zu können – anfangs gewohnt reglos und still, begannen allmählich unruhig zu werden. Aber lag das nun daran, dass sie sich über den verzögerten Beginn des Gottesdienstes wunderten, oder weil auch bei ihnen ...?
    Er konnte nicht länger hinüberstarren, die Mönche begannen ebenfalls, umherzublicken und ihm Blicke zuzuwerfen. Und es war von hier ohnehin unmöglich zu erkennen, ob ...
    Warum war er überhaupt so besorgt? Und was, vor allem, sollte sie mit Georgs Abwesenheit zu tun haben?
    Der Apfel. Georgs verdächtig rote Wangen und seine gerunzelte Stirn, als Arno mit dem Brot gekommen war. Der junge Mann war entflammt, daran gab es keinen Zweifel. Und wenn er, der zuverlässigste aller Novizen, die Arno je geführt hatte, sich ausgerechnet heute verspätete ...  
    Es half ja nichts, riss Arno sich aus diesen Gedanken. Jetzt konnte er nichts tun – und vor allem konnte er nicht noch länger warten. Vielleicht kam Georg ja auch gleich.
    Psalm sechs war dran, in Hartwigs Übersetzung.
    „Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm“, erhob Arno seine Stimme als Erster und wartete, bis die hellen Stimmen von drüben antworteten:
    „Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach;
    Heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken.“
    Wie immer konnte er allein Elisabeths über allen anderen schwebende Stimme heraushören – aber die konnte ihm nicht das sagen, was er wissen wollte.  
    „Und meine Seele ist sehr erschrocken.
    Ach du, Herr, wie lange“, übernahmen die Männer.
    Und als nun alle zugleich einstimmten, gelang es Arno endlich, sich in die Liturgie fallen zu lassen:
    „Wende dich, Herr, und errette meine Seele,
    hilf mir um deiner Güte willen ...“
    Elisabeths Stimme scholl zu ihm herüber in reinem Glück. In solchen Momenten verstand Arno sie. Immerhin spürte er selbst, wie all seine Liebe sich in den heiligen Tönen, in den uralten Gebeten niederschlug und alles, was ihn sonst beschäftigte, wegrückte, kleiner wurde, nichtig, überflüssig. Wichtig allein Gott und ihrer aller Leben für ihn, welches sich in den wohlklingenden Versen ausdrückte, die Wiederholung allen menschlichen Lebens von Beginn an.
    „Ich bin so müde vom Seufzen“, sang Elisabeth.
    „Ich schwemme mein Bett die ganze Nacht,
    Und netze mit meinen Tränen mein Lager ...“
    Sie hatte geweint, wie auch Arno und alle Menschen zu allen Zeiten geweint und gelitten hatten – doch Gott war da und rettete sie, wie er Noah gerettet hatte und Jonah und seinen Sohn Jesus Christus.
     
    “Magnificat anima mea Dominum, et exsultavit spiritus meus in Deo salutari meo. Quia respexit humilitatem ancillae suae ...“  
    Erst mit dem mechanisierten Magnificat wich Arnos Rausch allmählich. Georgs noch immer freier Platz drängte sich erbarmungslos in sein abebbendes Glück.
    Wo war er? Noch nie hatte er den gesamten Gottesdienst verpasst.
    “Fecit potentiam in brachio suo, dispersit superbos mente cordis sui. Deposuit potentes de sede ...“  
    Mit gerunzelter Stirn spähte Arno erneut zum Frauenchor hinauf. Auf der von ihm einsehbaren Seite stand die Äbtissin neben den ranghöchsten Schwestern, sodass er nicht sagen könnte, ob ... Allerdings hatte nichts darauf hingewiesen, dass eine Schwester verspätet angekommen wäre. Was aber, wenn auch Mathilda ganz weggeblieben wäre?  
    “Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto, sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum.”
    “Amen.”
    Der Ausklang. Die sich über alle senkende Stille. Dann der Aufbruch, anfangs vereinzelte Geräusche, die zu einer

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