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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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Wunsch beugen müssen?“ Umgekehrt war es kaum vorstellbar. Eine Frau hatte, wie sie selbst schon erlebt hatte, diesbezüglich einfach kein Mitbestimmungsrecht.
    „Hätte ich das früher gewusst. Vielleicht ...“ Hätte sie Schwester Glaubrecht danach gefragt? Hätte sie es wirklich gewagt, einer Schwerkranken derartige Fragen zu stellen? Wahrscheinlich nicht.
    Langsam umrundete Mathilda den Sarg und besah die Tote von allen Seiten. Sie bemerkte die vielen kleinen Falten, die von einem gelebten Leben sprachen, registrierte auch die tiefen Furchen neben dem Mund, wie bei Elisabeth, die von Kummer und Sorgen berichteten, vielleicht auch von Schmerz und Angst. Und sie musterte die dunklen Augenbrauen, die von ebenso dunklen Haaren erzählten, die diese Frau einst gehabt haben musste.
    War sie wirklich einmal jung gewesen? Mathilda sah genau hin. Sie war alt und schon lange krank gewesen. Aber da war noch eine gewisse Ebenmäßigkeit, die einmal Jugend und Schönheit gewesen sein mochte.  
    Warum hatte sich Schwester Glaubrecht für ein Klosterleben entschieden? Hatte auch sie keine Wahl gehabt? Einiges deutete darauf hin. Ob Bruder Wolfgang darauf bestanden hatte, dass sie – um seiner Frau Eva weiterhin zu dienen ...?
    Keine Wahl. Eva womöglich genauso wenig wie Schwester Glaubrecht. Hatten Frauen überhaupt eine Wahl?
    Ich habe die Wahl. Jetzt!
    Sie erschrak vor dem Gedanken - und vor Arnos Antlitz in ihrem Kopf, das ganz unvermittelt dort aufgetaucht war. Welche Wahl sollte sie haben? Es war mit Arno doch das gleiche wie mit Sebastian. Nur dass die Entscheidung Arnos von vornherein feststand. Es gab keine Wahl für- oder gegeneinander.
    Aber warum ... er benimmt sich doch anders.
    Das war es. Arno benahm sich nicht so, als wollte er alleine Gott. Er benahm sich, als ringe er mit sich. Als wollte er sie - vielleicht doch.
    Sie drehte sich einmal um sich selbst, nur um sich dann voller Schreck wieder der Toten zuzuwenden. Ringsum war nichts als tiefste Finsternis. Sie war hier auf einer kleinen Insel aus Licht - mit einer Leiche.
    Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, nicht mehr länger hierbleiben zu können. Deswegen reckte sie sich nach oben, hob die Kerze vom Ständer, verließ den Frauenchor und trat auf den Balkon der Laienschwestern hinaus. Mit leisen Schritten ging sie nach vorn, zur Brüstung. Hier war sie noch niemals gewesen. Von hier aus betete Edeltraud, hier sang sie.
    Die Kirche lag in völliger, undurchdringlicher Dunkelheit, einer Schwärze, überhaupt nicht substanzlos, eher wie weiches, schwarzes Haar.
    Wie Arnos Haar. Mathilda sah ihre Hand sich über die Brüstung ausstrecken, um es zu berühren, doch es war weiter weg als gedacht. Sie beugte sich weiter nach vorn – und fühlte sich im nächsten Moment entsetzt zurückschnalzen, als sie wankte und das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
    Arno! , schrie alles in ihr. Ich will dich berühren, ich will bei dir sein! Auch hier. Egal was Wolfgang und Eva getan haben, egal was Sebastian tut. Es ist keine Entscheidung für oder gegen Gott.  
    Nein, diese Entscheidung betraf Gott überhaupt nicht. Es ging nur um Liebe. Für oder gegen die Liebe.
    Mathilda schluchzte in die schwarze Leere vor sich. Und schluchzte wieder. Dann schwieg sie, überrascht vom Hall ihrer Stimme in der ansonsten leeren und völlig einsamen Kirche.
    Das Bedürfnis, diese Leere zu füllen, sie zum Schwingen zu bringen, bemächtigte sich ihrer. Und so erhob sie die Stimme und sang, was aus ihrem Herzen kam:
     
    „All' mein' Gedanken, die ich hab
    Die sind bei dir.
    Du auserwählter einz'ger Trost,
    Bleib stets bei mir.
    Du, du, du sollst an mich gedenken.
    Hätt' ich aller Wünsch' Gewalt,
    Von dir wollt' ich nicht wenken.“
     
    Sie war längst wieder am Sarg und betete, als sie leise Geräusche, vielfüßiges Getrappel sich nähern hörte. War denn schon Zeit für Vigil?
    Die letzten Stunden schienen Mathilda schnell vergangen und sie fühlte sich besser, denn sie hatte einen Plan gefasst. Dafür brauchte sie jetzt nur noch mit der Äbtissin zu sprechen.
    Einen letzten bedauernden Blick auf die Tote werfend, die ihr ab sofort nicht mehr alleine gehören würde, richtete sie sich auf und sah den Ankommenden entgegen.

Freitag, 6. Januar 1522
    Mit Engelszungen
     
    Es ist nichts so zugedeckt, es soll aufgedeckt werden.
    Meister Eckart
     
     
    Sie weiß es. Der Satz war die ganze Nacht über in Arnos Kopf gewesen. Er hatte kaum geschlafen, und das hatte nichts mit seinen

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