Und jeder tötet, was er liebt
Konditionstests mindestens noch gehen.“
„Dann komm doch übermorgen her, ich hole dich von der Fähre ab. Das Wetter ist übrigens traumhaft.“
Er redete einnehmend, wie der Wolf aus dem alten Kindermärchen. Der böse Wolf, der Kreide gefressen hatte, um sein Opfer in die Falle zu locken.
„Okay, ich gebe dir morgen Bescheid, ob es klappt.“
Schon bei der bloßen Vorstellung, seinem Bruder in diesem Augenblick von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, ballte Tom seine Hände zu Fäusten. Früher, als Kinder, hatten sie ihren Streit meistens durch eine zünftige Prügelei gelöst. Könnten sie ihr jetziges Problem doch auch nur so einfach aus der Welt schaffen. Seine Liebe zu Anna brannte in ihm, wieder spürte Tom, wie viel sie ihm noch immer bedeutete. Er hatte vieles falsch gemacht. Und sein größtes Versäumnis hatte gewiss darin bestanden, Anna nicht mehr zuzuhören, das Leben mit ihr als Selbstverständlichkeit zu nehmen. Doch vielleicht war es noch nicht zu spät.
Er steckte sein Handy in die Tasche zurück, dann warf er einen Stein in die Nordsee und schrie auf. Sein Schultergelenk schmerzte wie Feuer. Er hatte seine ganze Wut in diesen Wurf gelegt, nun schüttelte er sich und begann, wie ein Besessener zu rennen. Immer am Meer entlang. Unter seinen kraftvollen Schritten stob der feine Sand nur so auseinander. Er hörte erst wieder zu laufen auf, als die Umrisse seines Elternhauses näher kamen. So oder so, er würde Jan zur Rede stellen. In Gedanken buchte er sogar schon einen Flug nach London, falls Jan vorhaben sollte, einer Begegnung mit ihm auszuweichen. Doch nach wie vor hoffte Tom inständig, dass er sich täuschte. Er hatte viel zu verlieren.
Als Anna am nächsten Morgen ihren Dienst antrat, waren Günther Sibelius und Weber bereits da. Sie sahen wie sie selbst müde aus, kein Wunder nach der kurzen Nacht.
„Setzen Sie sich, Frau Greve“, Günther Sibelius schob ihr einen Stuhl zurecht, „und trinken wir erstmal einen Kaffee zusammen.“
Auf Annas Schreibtisch lag der Bericht über die Durchsuchung des Lüdersen’schen Hauses. Der rosafarbene Klebezettel mit der Notiz „Wichtig!“ auf der ersten Seite erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Sie schlug die Mappe auf.
„Hören Sie sich das an! Die Spurensicherung hat etwas in der Asche von Lüdersens Kamin gefunden. Es ist ein kleines Stahlschild mit der Aufschrift ,New York Yankees Limited Edition 3491762‘.“
„Das ist doch ein Baseballklub“, meinte Weber.
„Genau.“ Anna griff zum Telefon und drückte die Mithörtaste.
„Dr. Severin, Anna Greve hier. Wie ist Ihr Urlaub gewesen?“
Sie dachte an ihre erste Begegnung mit dem Pathologen zurück und sah ihn in ihrer Vorstellung gerade das Herz eines Toten auswiegen.
„Na ja, an meine Ferien kann ich mich schon kaum mehr erinnern. Ich hatte hier gleich so viel zu tun und musste erstmal das Chaos in meiner Abteilung beseitigen. Was gibt’s denn?“
„Ich wollte fragen, ob Olaf Maas vielleicht auch mit einem Baseballschläger getötet worden sein könnte.“
Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Anna hörte, wie Severin in seinen Akten blätterte. Nach einer Weile entgegnete er: „Die tödliche Schädelfraktur ist durch einen einzigen, heftigen Schlag herbeigeführt worden. Wir suchen nach einer Waffe, die keine spitzen Kanten aufweist. Außerdem haben wir Lackpartikel in den Wunden des Opfers gefunden. Von einem durchsichtigen Lack, wie er auch zur Oberflächenbehandlung von Holz verwendet wird. Das passt sehr gut zusammen, ein Baseballschläger wäre das ideale Tatwerkzeug.“
Triumphierend sah Anna in die Runde. „Danke, Doktor.“ Sie legte auf. „Scheint so, als habe Lüdersen den Schläger, mit dem er Olaf Maas getötet hat, anschließend in seinem Kamin verbrannt. Jetzt bin ich gespannt, was er sagen wird, wenn wir ihn damit konfrontieren. Gehen wir.“
Anna war schon aufgestanden, als plötzlich die Tür zu ihrem Büro geöffnet wurde. „Hallo, darf ich Sie kurz stören?“ Martin Kuhn kam herein, anscheinend bester Laune. „Es gibt Neuigkeiten, Kollegen, ich habe mich entschlossen, eine neue Herausforderung anzunehmen. Wenn dieser Fall hier abgeschlossen ist, werde ich Hamburg den Rücken kehren. Wie weit sind Ihre Ermittlungen eigentlich gediehen?“
Kuhn fragte in einem leichten Ton, so, als ginge ihn das alles gar nichts mehr an. Trotzdem war seine Nachricht wunderbar, bedeutete sie doch, dass sie ihn schon bald nicht mehr würden ertragen
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