Und jeder tötet, was er liebt
war bestimmt kein Vergnügen, mit dieser Frau zusammenzuleben. Außerdem wollte sie immer alles ganz genau wissen, es schien, als habe sie sogar schon den armen Weber mit ihren Verschwörungstheorien angesteckt. Was er für Alfons getan hatte, war schließlich kein Verbrechen gewesen. Auch nicht, dass er seinen Freund jetzt vor Anna Greves lächerlichem Verdacht, Alfons könne etwas mit Esthers Tod zu tun gehabt haben, zu schützen versuchte. Irgendwann würde die Greve ihren ersten großen Fehler machen, und dann hätte er endlich einen Anlass, ihre Versetzung zu beantragen. Bis es jedoch so weit war, würde er dafür Sorge tragen, dass sie nicht ohne männliche Kontrolle ermittelte.
Antonia Schenkenberg hatte also richtig gelegen mit ihrem Gefühl, aber es hätte schlimmer kommen können. In der Hoffnung, dass der Neue in Ordnung war, ging die Kommissarin Anna Greve an ihren Schreibtisch zurück und arbeitete an ihrer Recherche über den Fußballverein weiter.
Udo Lanz, der Geschäftsführer des HFC, schien ein aalglatter Typ zu sein. Er war Mitte dreißig und erst seit ein paar Jahren Vereinsmitglied. Vor seiner Anstellung beim HFC hatte Udo Lanz die deutsche Niederlassung eines weltweit agierenden Sportartikelherstellers geleitet. Die Resonanz auf seine Verpflichtung war überwiegend begeistert ausgefallen. Es wurde ihm zugetraut, die wirtschaftlichen Belange des HFC professionell zu vertreten, auch wenn Udo Lanz nicht der Typ zu sein schien, mit dem man sich gern auf ein Bier verabredete. Aber er war durchsetzungsfähig und hatte ein sicheres Gespür für innovative Ideen. Annas Konzentration wurde durch ein Klopfen an der Tür gestört. Ein Mann um die fünfzig betrat ihr Büro. Er stellte sich ihr als Günther Sibelius vor.
„Ich dachte, ich schaue mal bei Ihnen vorbei. Haben Sie vielleicht einen Kaffee da?“
„Ist alle“, murmelte Anna. Ihr Blick heftete sich wieder auf den Bildschirm.
„Dann werde ich eben einen für uns kochen.“ Sibelius fuhrwerkte am Kaffeeautomaten herum. „Womit beschäftigen Sie sich denn gerade?“, fragte er, als er ihr kurz darauf einen Becher mit frisch gebrühtem Kaffee herüberreichte.
Anna nahm einen Schluck. Schmeckte gar nicht so schlecht.
„Ich versuche, mir ein Bild von Udo Lanz zu machen, das ist der Geschäftsführer vom HFC.“
„Vielleicht sollten wir einen Termin vereinbaren, um die Herren einmal persönlich kennenzulernen.“
Jetzt schaute Anna ihn zum ersten Mal richtig an. Wollte sich der Neue etwa bei ihr anbiedern?
„Ich habe den Tag damit verbracht, mir einen Überblick über den Fall Lüdersen zu verschaffen. Herr Kuhn hat mich ja angewiesen, Ihnen zur Seite zu stehen. Und so wie ich es sehe, kann es nicht schaden, etwas Licht in Alfons Lüdersens Beziehungen zum Verein zu bringen. Was meinen Sie, Frau Greve?“
„Genau mein Gedanke.“
„Gut, dann bis nachher. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie einen Termin organisiert haben?“
Anna nahm sein Angebot und die ihr dargebotene Hand dankbar an. Sie hatte ein gutes Gefühl.
Alfons Lüdersen stand vor dem Kleiderschrank und suchte seine dunkelblaue Sporthose, die anscheinend spurlos verschwunden war. Er hatte sich mittlerweile fast daran gewöhnt, jeden Tag etwas Neues zu vermissen. Da lagen einzelne Socken in seiner Schublade, von denen die Gegenstücke unauffindbar blieben. Seine Haushälterin tat bestimmt ihr Bestes, doch nicht zum ersten Mal seit Esthers Tod musste er sich mit den alltäglichen Tücken eines schlecht organisierten Haushaltes herumschlagen. Vielleicht, so seine Hoffnung, hatte sie die Hose nur falsch eingeordnet, als er nun Esthers Seite des Schranks öffnete und in ihren Sachen herumzuwühlen begann. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er ihre hellgraue Strickjacke sah. Er wühlte seinen Kopf hinein und atmete einen Hauch ihres Parfums. Es wurde Zeit, sich von diesen Kleidern zu trennen; ihre Anwesenheit machte alles nur noch schwerer. Plötzlich fiel ihm ein kleines schwarzes, in Leder gebundenes Buch vor die Füße, Esthers Adressbuch. Alfons Lüdersen nahm es in seine Hand und ging damit ins Wohnzimmer hinüber. Bevor er es aufschlug, sah er in den Garten hinaus. Erst gestern hatte er die Stelle, an der er Esthers Finger begraben hatte, nochmals genau untersucht. Das darüber liegende Rasenstück war mittlerweile wieder gut mit seiner Umgebung zusammengewachsen. Sein Blick fiel auf den violettfarbenen Sommerflieder, der durch seinen betörenden Duft jedes Jahr
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