Und jeder tötet, was er liebt
einander zu Geburtstagen und zu Weihnachten Karten geschrieben und ein- oder zweimal im Jahr miteinander telefoniert hätten.
„Esther Lüdersen soll als Kind sehr verschlossen gewesen sein.“
„Und was ist mit der anderen?“
„Die ist wesentlich interessanter. Es handelt sich um ein früheres Kindermädchen von Esther Lüdersen. Mimi Kuhnert ist heute beinahe achtzig Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim in Hamburg-Bahrenfeld, wo wir sie auch besucht haben. Leider war keine Unterhaltung mit der alten Dame möglich, sie leidet an der Alzheimer-Krankheit. Aber aus einem Gespräch mit einer der Krankenschwestern auf ihrer Station wurde deutlich, dass sich Frau Kuhnert nach wie vor sehr mit den Vorgängen im Hause Hinrichs beschäftigt. Wenn man ihren Erinnerungen folgen will, scheint sie wohl tatsächlich die einzige Person gewesen zu sein, der Esther Lüdersen als Kind vertraut hat.“
„Gibt es jemanden, der das Kindermädchen von früher her kennt und dem sie von ihren Erlebnissen erzählt haben könnte? Ihre Kinder vielleicht?“
„Die Krankenschwester hat ausgesagt, dass sie ledig und kinderlos ist. Außer von Esther Lüdersen hat sie überhaupt keinen Besuch bekommen.“
„Macht es Sinn, Wilfried Hinrichs über Frau Kuhnert zu befragen?“
„Glaube kaum“, entgegnete Anna. „Nach seiner Aussage hat seine Tochter überhaupt keine Freunde gehabt. Und ich vermute, es liegt außerhalb seiner Vorstellungskraft, dass sie mit ihrem ehemaligen Kindermädchen befreundet gewesen sein könnte.“
Weber hörte gerade seinen Magen knurren, als Antonia Schenkenberg ins Büro hereinkam. Sie brachte ein paar belegte Brötchen aus der Kantine mit, über die er sich sofort hermachte.
Anna schenkte Günther Sibelius und sich selbst jeweils noch einen Kaffee nach, anschließend stellte sie sich mit ihrem Becher in der Hand ans Fenster und starrte hinaus.
„Wo bleiben die Untersuchungsergebnisse der Spurensicherung aus Lüdersens Haus nur so lange?“
„In der KTU sind einige Mitarbeiter im Urlaub und die Vertretung scheint mit der Arbeit nicht nachzukommen. Da geht zurzeit so allerhand durcheinander.“ Günther Sibelius lächelte Anna Greve an. „Ich werde da besser noch einmal nachhaken.“
Lukas Weber kaute derweil schnell und geräuschvoll. Nur wenig später wischte er sich bereits den Mund mit einer Papierserviette sauber und nahm seine Jacke von der Stuhllehne.
„Sie wollten doch noch einmal in die Wohnung von Olaf Maas, von mir aus können wir fahren, Kollegin.“
Günther Sibelius nickte zustimmend.
„Machen Sie nur. Ich bleibe so lange im Büro und halte die Stellung. Falls Ulrike Homberg in der Zwischenzeit eintreffen sollte, werde ich Sie sofort benachrichtigen.“
Anna und Weber sahen einander an. Zwei Seelen, ein Gedanke. Günther Sibelius war ein verdammt netter Kerl. Andere Kollegen, zumal ranghöhere, hätten sich in den Vordergrund gedrängt, die interessante Arbeit selbst erledigt und einen von ihnen zum Bürodienst verdonnert. Günther Sibelius tat das nicht, und gerade das machte seine Stärke aus. Er war ein erfahrener Kommissar, besaß darüber hinaus Menschenkenntnis und Sensibilität, also alle Voraussetzungen für einen guten Vorgesetzten. Sollte sich Martin Kuhn eines Tages wirklich für eine Karriere in der freien Wirtschaft entscheiden, würde Sibelius ein fähiger Nachfolger sein. Die Kommissarin sah in ihrem Tagtraum schon rosige Zeiten auf sich zukommen. Mit Sibelius als Vorgesetztem würden sie sich ausschließlich ihrer Arbeit widmen können und müssten Kraft und Zeit nicht wie bisher mit der Ausführung von unnötigen Anweisungen des Chefs vergeuden.
Weber lenkte das Auto durch den Stadtverkehr, er schien Annas Blicke nicht zu bemerken.
„Wie ist es Ihnen in Russland ergangen?“
Weber wusste, dass die Zeit für einen ausführlichen Bericht nicht ausreichen würde. Trotzdem begann er: „Petersburg ist eine faszinierende Stadt. Reich an Kultur, an Vergangenheit, arm an Zukunftsaussichten. Wenn man die Menschen auf der Straße beobachtet, wird die schwierige wirtschaftliche Situation sofort deutlich, in der sich das Land befindet. Es fehlt an Perspektiven und an Arbeit. In Sankt Petersburg ist ein Menschenleben zurzeit nicht viel wert.“
Trotz seiner traurigen Sätze hatte Lukas Webers Gesicht nun einen nahezu schelmischen Ausdruck angenommen.
„Kennen Sie Čechov?“
„Natürlich.“ Anna war verblüfft, dass sich Weber anscheinend auch für Literatur
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