Und jeder tötet, was er liebt
Toms Laune war allerdings auch an diesem Morgen schrecklich, und Anna fand nach wie vor keinen Weg zu ihm.
Ben und Paul waren inzwischen vom Frühstückstisch aufgestanden und gerade wieder im schönsten Streit, als die Nachrichten im Radio begannen. „Ruhe jetzt, ich möchte das hören“, rief Anna, woraufhin die Jungen die Küchentür zuknallten und sich im Flur weiterzankten. Sie drehte das Radio lauter. „Und hier noch eine Meldung vom Sport. Wie heute bekannt wurde, wechselt der Hamburger Fußballspieler Jan Greve zur kommenden Saison nach England. Der Londoner Erstligaklub Tottenham Hotspur hat den Sportler für eine Ablösesumme von drei Millionen Euro verpflichtet. Wie aus gut unterrichteten Kreisen zu vernehmen war, ist der Transfer bereits abgeschlossen.“
„So eine Schweinerei, das gibt es doch gar nicht.“ Tom warf die Zeitung auf den Boden. „Wusstest du etwas davon?“
„Nein.“ Anna war ganz still geworden.
„Wie kann er so einfach verschwinden, ohne uns vorher über seine Pläne zu informieren? Was haben wir ihm denn getan?“ Tom Greve nahm den Hörer und wählte die Nummer seines Bruders, doch am anderen Ende der Leitung meldete sich nur der Anrufbeantworter. „Wie ist seine Handynummer?“
Anna sagte ihm die Zahlenfolge aus dem Kopf auf. Doch auch hier schaltete sich nur die Mailbox ein, also hinterließ Tom eine Nachricht. Um von der eben gehörten Neuigkeit abzulenken und auch weil sie ihre Mutterpflichten ernst nahm, rief Anna durch die geschlossene Tür: „Vergesst nicht, euch die Zähne zu putzen!“
Dann machte sie sich daran, die Schulbrote für ihre Kinder zu schmieren. Heute tat sie es sehr gewissenhaft. Nicht einmal hob sie den Blick, denn sie wollte vermeiden, Tom in die Augen zu sehen. War ihm aufgefallen, dass sie die Handynummer von Jan auswendig gewusst hatte? Verstand sich mittlerweile auch Tom so wie Alfons Lüdersen darauf, in ihren Gedanken zu lesen?
An diesem Morgen verließ Anna Greve das Haus früher als sonst. So saß sie schon mit einem Kaffee vor sich an ihrem Schreibtisch, als Weber und Sibelius ins Büro kamen. Zum ersten Mal hatte Anna auch eine Kanne Tee für Weber gekocht.
„Sie haben nicht zufällig noch einen kleinen Imbiss für mich vorbereitet?“
„Lassen Sie den Quatsch, Weber, ich bin heute wirklich nicht in der Stimmung für Ihren abgestandenen Humor.“
Anna sah in betreten dreinblickende Gesichter und grinste verlegen.
„Ich muss wohl mit dem verkehrten Bein aufgestanden sein, tut mir leid.“
„Kein Problem.“ Weber schenkte sich eine Tasse Tee ein.
„Wie wäre es, wenn wir heute nach der Arbeit etwas trinken gehen? Mich interessiert, was Sie in Sankt Petersburg erlebt haben.“
„Können wir gerne machen.“ Zum Glück schien Weber nicht nachtragend zu sein.
„Gut, Kollegen, gehen wir also an die Arbeit. Zuerst sollten wir zusammentragen, was wir bis jetzt haben.“
Günther Sibelius zog die große Tafel hervor, auf der ganz oben der Name der Ermordeten, Esther Lüdersen, stand. Dahinter waren die Worte Habgier und Eifersucht zu lesen, hinter jedem ein Fragezeichen.
Auch wenn es bei vielen Verbrechen um Geld ging, mordeten die Menschen doch nur vordergründig deswegen, dachte Anna. Sie mordeten, weil sie ihre Lebenslügen oft nicht anders retten konnten, und ließen lieber reale Menschen sterben als ihre Träume von eigener Größe und Bedeutung.
„Mir scheint, da fehlt noch etwas.“
Lukas Weber nahm den Filzstift von der Ablage und schrieb „missglückte Erpressung“ dazu.
„Soll heißen?“
„Na ja, es ist möglich, dass das Ziel der Entführung in der Einschüchterung eines Dritten bestand, der Mord nicht geplant, sondern ein Unfall war. Dann wäre Esther Lüdersen als Person gar nicht interessant gewesen, sondern nur die Tatsache, dass durch ihre Verschleppung jemand anderer erpressbar wurde.“
„Wie ein Unfall sah der Kopfschuss weniger aus“, blaffte Anna Weber an.
In die nächste Zeile schrieb Weber nun den Namen des zweiten Toten: George Raimov. Schließlich hatte Gregor Leskov in Sankt Petersburg bestätigt, dass zwei, wie er sie nannte, dumme Bauernjungen aus seiner Stadt an dem Mord an Esther Lüdersen beteiligt gewesen waren. Raimov könnte gleichzeitig Täter und Opfer gewesen sein, dachte Anna. Der gezielte Kopfschuss und die Tatsache, dass man die Leiche mit Gewichten beschwert im Hafenbecken versenkt hatte, trugen die Handschrift der Mafia. Auch fügte sich diese Todesart nahtlos in das
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