Und jeder tötet, was er liebt
stark genug war, ihr die Wahrheit zu entlocken.
Als Anna wieder in ihrem Wagen saß und das Radio einschaltete, liefen gerade die Verkehrsnachrichten. Obwohl die Rushhour schon lange vorbei war, gab es noch immer einen ausgedehnten Stau vor dem Elbtunnel. Einmal mehr würde sie ewig brauchen, bis sie zu Hause war. Zum Teufel mit der Stadt!
Alfons Lüdersen lag in seiner Zelle und konnte nicht einschlafen. Seit Stunden, so kam es ihm vor, drehte er sich auf seiner harten Matratze von einer Seite auf die andere. Doch es lag nicht an den widrigen Umständen, sondern an seinen Gedanken, die ihn daran hinderten, endlich auszuruhen. Er fühlte sich schlecht, und es gab keinen Menschen, der ihn von seiner Qual befreien konnte. Esther war nicht die große Liebe seines Lebens gewesen, kein Mensch hätte das sein können, aber er vermisste sie. Er vermisste sie so sehr, dass ihm alles wehtat. Dieser Schmerz hatte sich seit Esthers Tod von Tag zu Tag verschlimmert und mittlerweile eine Intensität erreicht, die ihn auch körperlich leiden ließ. Alfons Lüdersen war, seit er seine Kindheit hinter sich gelassen hatte, damit beschäftigt gewesen, die Umstände seines Lebens zu verbessern. Anders als Esther kam er nicht aus einem reichen Elternhaus, er hatte sich seinen Erfolg hart erkämpfen müssen, und er war stolz darauf. In seinem Leben war es bisher darum gegangen, sein Revier abzustecken und nach Möglichkeit zu vergrößern. Alfons Lüdersen beherrschte dieses Spiel in Vollendung, durch ihn war die Firma seines Schwiegervaters noch erfolgreicher geworden. Aus einem Geschäft unter vielen hatte er eine der wichtigsten Baufirmen der Stadt gemacht. Heute war er ein einflussreicher Mann. Es gab kaum eine wichtige Ausschreibung für irgendein Bauvorhaben in der Stadt, an der seine Firma nicht teilnahm. Wie viele Jahre waren darüber eigentlich ins Land gegangen?
Alfons Lüdersen richtete sich auf, um in den Spiegel zu sehen, den er von zu Hause mitgebracht hatte und der nun auf der Ablage über dem Waschbecken stand. Sein Haar war grauer geworden, doch das war nebensächlich; es waren seine Augen, die ihm Sorgen machten. Nicht die Falten oder der Ausdruck darin, sondern die Augen an sich. In der Iris und dem sie umgebenden Weiß sah er deutlich den Beginn seines Verfalls. Wozu die Mühe, all die Jahre in seinem Beruf das Beste zu geben, wenn er nun vor der Zeit krank würde und sterben müsste.
Er war gewesen wie ein Hamster des nachts in seinem Käfig. War im Rad gelaufen bis zur Erschöpfung, im Kreis herumgehetzt, getrieben, immer weiter, immer mehr haben wollend. Und unter dem Strich hatte er nichts Wesentliches erreicht. Nichts, das ihn jetzt zu trösten vermochte. Alfons Lüdersen glaubte nicht an Wiedergeburt, nicht an Auferstehung. Jeder Mensch hatte nur eine Chance, jeder Mensch hatte nur ein Leben. Es kam ihm auf einmal so vor, als sei er die ganze Zeit den falschen Zielen hinterhergelaufen, als habe er dieses eine Leben nutzlos verschwendet. Warum nur hatte er so wenig Energie und Aufmerksamkeit darauf verwendet, mit Esther glücklich zu werden? Immerhin hatte Esther ihn angebetet, sie hatte ihn wirklich geliebt. Warum war es ihm so schwergefallen, ihre Gefühle anzunehmen und zu erwidern? Alfons Lüdersen setzte sich auf und ging ein paar Schritte in seiner Zelle umher. Er musste versuchen, diese ungewohnten Gedanken wieder aus seinem Kopf zu verscheuchen. Der einzige Grund für seine niedergedrückte Stimmung war doch nur diese absurde Situation hier in der Gefängniszelle. Alfons Lüdersen beschloss, sich nicht länger verrückt zu machen. Der nächste Tag würde kommen, und mit ihm auch die Zuversicht. Immerhin war er ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Mann, der eigentlich im Reinen mit sich war.
Anna Greve saß in der Küche und trank Kaffee, Tom hatte sich ihr gegenüber hinter der Tageszeitung verschanzt. Seit Anna wieder arbeitete, hatten sie sich angewöhnt, gemeinsam zu frühstücken. Jeden Morgen besorgte ein anderes Mitglied der Familie frische Brötchen. Es gab selbst gepressten Saft, und sie ließen sich viel Zeit, denn mittlerweile war das Frühstück die einzige Mahlzeit des Tages, bei der sie alle zusammen sein konnten. Anna und Tom waren eigentlich Langschläfer, aber diese gemeinsame halbe Stunde hatte in den letzten Wochen immer mehr an Bedeutung gewonnen. Verstohlen betrachtete die Kommissarin ihren Mann. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass er nicht mehr von Auszug gesprochen hatte.
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