Und Jimmy ging zum Regenbogen
beiden Seiten der breiten, freigeräumten Allee, die von der Hauptstraße in Fischamend fort zur Donau führte. Erstarrt war diese Welt, unheimlich und faszinierend. Hier wehte kein Wind.
Sie gingen nebeneinander, Bianca in der Mitte. Die Frau in dem hellen Nerzmantel sah sich um, wie man sich, träumend, auf einer Straße umsieht, die zurück in die Jugend führt.
»Sie haben die Allee freigeräumt«, sagte Bianca. »Viele Gäste vom ›Merzendorfer‹ machen einen Spaziergang hinunter zum Wasser. Und die Fischer kommen mit ihren Motorrädern vom Strom herauf. Damals gingen sie noch zu Fuß, die alten Männer, die hier hausten. Es ist alles noch wie damals, alles … Und ich erkenne alles wieder … jeden Baum, jeden Tümpel, die Büsche ..«
Über Bianca hinweg sahen Irene und Manuel einander an. Sie bemerkte es nicht. Mehr und mehr versank sie in Erinnerung.
»Ich war schon lange nicht hier … bestimmt zwei Jahre. Früher bin ich oft hergekommen. Und ich ging immer diese Straße hinunter zum Strom …«
Die Bäume wurden niedriger, das Unterholz wurde dichter. Die zwei Russen aus dem Peugeot waren am Anfang der Allee stehengeblieben und sahen den drei Menschen nach, die sich mehr und mehr von ihnen entfernten.
»Damals«, sagte Bianca, »war es Sommer. Anfang Juni 1943. Schon irre heiß. An diesem Sonntag hatte Heinz drüben im Werk Luftschutzdienst. Mit ein paar anderen. Eine Routinesache, jeder kam immer wieder dran. Es gab noch keine Luftangriffe auf Wien. Die Männer hatten nichts zu tun, es machte nichts, wenn einer einmal wegging …«
Wir müssen ganz nahe am Wasser sein, dachte Manuel. Er konnte es riechen.
»Heinz und ich fanden das herrlich. Als mein Kursus in der Herrengasse beendet war, hatten wir immer neue Treffpunkte gesucht und gefunden – in Stadtbahnunterführungen, einsamen Parks, Kirchen. Und immer neue Ausreden und Alibis. Meine Freundin half mir sehr, auf sie konnte ich mich verlassen. Inge hieß sie. Inge Pagel. Sie half mir auch damals und hier …«
»Wie?« fragte Irene.
»Ich war früher im Sommer mit Heinz immer nach Klosterneuburg hinauf an die Donau gefahren«, sagte Bianca. Und erklärend an Manuel gewandt: »Nördlich von Wien. Mein Vater hatte in diesem Juni 43 gerade eine große Vortragsreise, quer durch Österreich. Ich war mit Mutter allein. Ich sagte, Inge und ich würden nach Klosterneuburg fahren an jenem Sonntag. Inge hatte auch einen Freund. Mit dem fuhr sie wirklich hinauf. Ich nahm die Hainburger Bahn und fuhr hierher … In einem Monat begannen meine Ferien! Dann konnte ich Heinz öfter hier treffen, viel öfter … Er würde dann eben mehr Luftschutzdienst haben an Sonntagen – den von anderen Arbeitern übernehmen! Oder ich konnte auf ihn warten, um fünf Uhr war er mit der Arbeit fertig. Zu Hause wollte er erzählen, daß er Überstunden machen mußte. Es war alles schon geplant. Aber dieser sechste Juni, dieser Sonntag, das war das erste Mal. Ich kam gegen zehn Uhr an. Heinz erwartete mich nicht am Bahnhof, sondern hier in dieser Allee, er hatte mir den Weg genau erklärt. Niemand sollte uns sehen. Und da gingen wir dann, Hand in Hand, heiß war es, ein wunderschöner Tag, keine Wolke am Himmel … Als wir zum Strom kamen, lag da das Boot eines Fischers, angebunden an einem Pflock … Mein Gott«, sagte Bianca, »schauen Sie doch, da liegt wieder ein Boot …«
Sie waren nun durch gefrorenes Schilf geschritten und standen am Ufer der Donau, deren Wasser grau, träge und langsam vorbeifloß. Man sah nicht den ganzen Strom, denn direkt gegenüber, keine zwanzig Meter entfernt, erstreckte sich eine lange, mit Gebüschen und Bäumen bewachsene schmale Insel. Auch sie war völlig weiß und in Schnee versunken. »Wir nahmen das Boot und ruderten hinüber«, sagte Bianca, und ihre Stimme klang atemlos, und ihre grauen Augen waren nun dunkel. »Keinen Menschen sahen wir, nicht einen einzigen. Die Luft glühte … Ich war so aufgeregt wie noch nie in meinem Leben. Und Heinz war es auch, genauso aufgeregt wie ich …«
20
Knirschend glitt der alte Kahn ein Stück den Strand der Insel empor. Heinz sprang an Land und half Bianca beim Aussteigen. Sie hielt vorsichtig eine Tasche, in welcher sich der Tagesproviant, den ihre Mutter bereitet hatte, und ihr Badeanzug befanden. Bianca trug ein blaues, ärmelloses Kleid, Heinz kurze Hosen, Sandalen und ein weißes Hemd. Eine Badehose hatte er in der Hand. Nun zog er das Boot weit auf den Sandboden der
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