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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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noch leichter;
    denn
die Übung kann fast das Gepräge der Natur
    verändern.
    (Shakespeare, Hamlet)
     
    Sloane Square... Stau... Sirene... Stau...
Sirene...
    Kein Wunder, dass Autofahrer
hin und wieder der Straßenkoller packte — sogar jenen geduldigen
Verkehrsteilnehmer in dem Dienstfahrzeug mit heulender Sirene, der schließlich
auf den Seitenstreifen der M40 fuhr, um seinen Chef anzurufen.
    «Stecke im Stau, Sir. Schätze,
dass ich es in einer Stunde schaffe.»
    «Es ist fünf nach sieben,
Lewis, Sie platzen geradewegs in die Archers ! Hat es nicht Zeit bis
später?»
    Ja, das hatte es wohl, und
Lewis wollte das seinem Chief Inspector gerade bestätigen, aber da hatte Morse
schon aufgelegt.
    Typisch für Morse und die
anderen Alten, Strange zum Beispiel, dass sie so wild auf diese verstaubte
Radioserie waren! Tatsächlich waren Morse und Strange — das wurde ihm erst in
diesem Augenblick so richtig klar — die Ältesten im Präsidium. Strange war ein
halbes Jahr älter als Morse und würde nächsten Monat in den Ruhestand gehen.
    Die Straße war frei, und Lewis
gab Gas. Natürlich hatte die Sache mit Harrison Zeit bis später. Vielleicht war
sie auch gar nicht so wichtig. Letztlich war, wie Morse neuerdings häufiger zu
bemerken pflegte, nichts wirklich wichtig. Trotzdem freute sich Lewis darauf,
sich mit ihm auszutauschen. Bei ihm hatte es etliche interessante Entwicklungen
gegeben, und sicher waren auch Morse bei seinen heutigen Recherchen ein paar
neue Ideen gekommen. Hoffentlich nichts allzu Abgehobenes, dachte er, und dann
zwang ihn ein jäher Regenguss, sich wieder auf sehr erdnahe Dinge zu
konzentrieren. Er ging mit dem Tempo auf 120 Stundenkilometer herunter.
     
    Um 19 Uhr 20 lehnte sich Morse
in dem angenehmen Bewusstsein, dass sein Puzzle nur noch wenige Lücken aufwies,
in dem schwarzen Ledersessel zurück. Zunächst war die obere Hälfte durchgängig
blau gewesen, so blau wie der Himmel an diesem Abend, ehe er sich gewittrig
bewölkt hatte. Dann aber hatten das gleichförmige Blau ein, zwei Möwen und ein
weißer Wolkentuff unterbrochen, und später (wenn Lewis kam?) würde vielleicht
sogar der «orangefarbene Abendstreif» erscheinen, um mit den denkwürdigen
Worten Housmans zu reden. In diesem Moment war Morse fast glücklich. Und noch
etwas: Er würde mit dem ersten Drink des Tages warten, bis Lewis da war. Im
Grunde, sagte er sich, war es ganz einfach, eine absehbare Zeit lang ohne
Alkohol auszukommen.
    Fünfzig Minuten später war das
Gewitter, das von Südwesten im gleichen Tempo vorankam wie Lewis auf der M40,
in North Oxford angelangt.
    Es mochte etwas mit Wagner zu
tun haben — jedenfalls empfand Morse die Intensität und die elektrischen
Entladungen eines Gewitters als sehr genussreich und beobachtete mit großem
Vergnügen den herabrauschenden Regen und die Blitze, die über den dunklen
Himmel zuckten. Am Fenster stehend, sah er ein leicht durchhängendes
Telefonkabel, das den bleiernen Himmel in zwei Hälften teilte und an dem
einzelne Tropfen entlangliefen, bis sie schließlich zu Boden fielen, wie
Soldaten, die angegurtet an einem Seil einen Fluss überqueren und schließlich
auf der anderen Seite landen, so wie er es früher selbst einmal gemacht hatte.
    Der Übergang von einem Ufer zum
anderen...
    Seine Mutter hatte nie das Wort
«sterben» in den Mund genommen, sondern immer von «hinübergehen» gesprochen. Es
war eine gefällige Vorstellung, eine gefällige Metapher. Als Dichter hätte er
ein Sonett über das Telefonkabel da draußen schreiben können. Aber Morse war
kein Dichter. Und in diesem Moment hörte das Gewitter so unvermittelt auf, wie
es angefangen hatte.
    Und draußen klingelte es.
     
    Es war nach zehn, Lewis war
fort, und Morse machte Bestandsaufnahme. Lewis hatte Alkohol abgelehnt, und
Morse hatte sich vorgenommen, seine praktisch beispiellose Abstinenz noch eine
Weile durchzuhalten. Er war müde, und um halb elf, also sehr zeitig für ihn,
beschloss er, sich hinzulegen. Er hatte so oft den Spruch gehört, dass Bier dem
Trinker eine klumpige Matratze beschert und Schnaps ein hartes Kissen und Alkohol
ganz allgemein der Stoff ist, aus dem Albträume sind, dass er — falls es
stimmte — heute Nacht vielleicht ausnahmsweise den Schlaf der Gerechten
schlafen würde.
    Er schob das Video der Vogelschutzgesellschaft
in den Recorder und sah noch einmal die wunderbaren Albatrosse schwerelos über
die Öde der Antarktis gleiten. So herrlich entspannend...
    Um Viertel

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