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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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die Hände lagen mit den Handflächen nach oben da, und über beide
Pulsadern lief ein tiefer, sauberer Schnitt. Neben ihrer linken Schulter lag
ein Küchenmesser mit schwarzem Griff.
    Der junge Kershaw war solche
Gräuel nicht gewöhnt, und in den nächsten Tagen erschien ihm das Bild häufig in
Albträumen. An zwei Stellen war der Vorleger blutgetränkt, und Kershaw musste
an die Farm in den Bergen von Wales denken, auf der er mal Urlaub gemacht hatte
und deren Schafe auf dem Rücken alle einen scharlachroten Fleck gehabt
hatten...
    Kershaw fand keinen
Abschiedsbrief, und auch später tauchte keiner auf. Es war, als habe Christine
diese Welt mit einer Bürde der Verzweiflung verlassen, die sie mit niemandem
teilen konnte, nicht einmal mit den Eltern, nicht einmal mit dem ungehobelten
Burschen, mit dem sie so lustvoll schlief, nachdem er sie zuerst mit Gewalt
genommen hatte, nicht einmal mit dem netten Inspector, der sie offenbar so gut
— viel zu gut! — verstand. Er wusste offenbar auch, dass sie gelogen hatte. Roy
konnte nicht über die Sheep Street geradelt sein, als Barron zu Tode gestürzt
war, weil er zu diesem Zeitpunkt mit ihr im Bett gelegen hatte.

Kapitel
68
     
    Es
sind nicht die kriminellen Taten, die zu gestehen am schwersten fällt, sondern
die lächerlichen und die schmachvollen.
    (Rousseau, Bekenntnisse)
     
    Lewis war nicht überrascht
gewesen, nein, gewiss nicht. Aber enttäuscht? O ja, das wohl! Und Morse hatte
diese Reaktion offenbar erwartet und doch nichts gesagt, was den Schock
gemindert hätte. Das Verhältnis zwischen ihnen würde nie mehr ganz so sein wie
früher, das stand für Lewis fest. Es ging gar nicht darum, dass Morse eines
Abends (oder an zwei oder zehn Abenden) losgefahren war, um sich mit einer
verführerisch attraktiven Frau zu treffen. Lewis hatte die Fotos der Frau
gesehen, die in jener Nacht nackt auf dem Bett gelegen hatte, und dass es viele
Männer, alte und junge, nach so einer Frau gelüstet hatte, wunderte ihn nicht.
Nein, es ging um etwas anderes. Um die untypische Heimlichkeit, mit der Morse
die Sache von Anfang an umgeben hatte.
    Auch jetzt hatte Lewis den
Eindruck, dass Morse in seiner Beichte nicht alles gesagt hatte. Ja, er hatte
sich Zugang zu der Akte verschafft, die die intime an Y. H. gerichtete
Korrespondenz enthielt. Ja, er hatte sich die Handschellen mit der eingeprägten
Nummer «angeeignet», die man mühelos zu dem Polizisten zurückverfolgen konnte,
an den sie ausgegeben worden waren, in diesem Falle Morse selbst. Ja, er hatte,
wie er bereitwillig zugab, das entsprechende Blatt der im Präsidium geführten
Ausgabeliste «entfernt». Was das Brieffragment betraf (Morse gab sofort zu,
dass es seine eigene Handschrift war), hatte Lewis, altmodisch wie er war,
gehofft, Morse sei nie nach Lower Swinstead eingeladen worden — trotz seiner
flehentlichen Bitte, sie möge sich melden, trotz diese fast schuljungenhaften
Behauptung, er sähe jeden Morgen seine Post durch in der Hoffnung, eine
Mitteilung von ihr zu finden. Und das war’s eigentlich auch schon. Morse hatte
etwas vertuschen wollen, dessen er sich schämte und das ihm sehr peinlich war,
hatte vermeiden wollen, dass sein Name, sein bis dahin guter Name, mit dem
Leben — und Sterben — von Yvonne Harrison in Verbindung gebracht wurde. Es war
leichtsinnig gewesen, dass er dieses eine Blatt eines längeren Briefes in den
Akten belassen hatte, aber es war schwerlich ein belastendes Beweisstück. Morse
leugnete jedoch hartnäckig, dass das, was er getan hatte — so feige und
unredlich und töricht es auch gewesen sein mochte —, den Verlauf der
ursprünglichen Ermittlung gefährdet hatte, die, wie er jetzt unverfroren
behauptete, geradezu beispiellos inkompetent geführt worden war. Diese Arroganz
war natürlich nicht ungewöhnlich, aber unter den gegebenen Umständen fand Lewis
sie unnötigerweise schnöde.
    Ganz abgesehen von diesen
Erwägungen aber wurmte es Lewis, dass Morse es seinerzeit so doppelzüngig
abgelehnt hatte, sich mit dem ursprünglichen Fall zu befassen. Zugegeben: Als
man ihn dazu verdonnert hatte, sich mit dem zu befassen, was für Lewis und
Strange die zweite Hälfte des gleichen Falles war, hatte Morse den gewohnt
hohen Standard logischer Analyse und die gewohnte Tiefe menschlichen
Verständnisses erreicht. Zugegeben: Er hatte, wie üblich, mehrere Meilen
Vorsprung vor dem Feld — und war ausnahmsweise vom Start an auf der richtigen
Bahn gewesen.
    Wer sonst als Morse hätte

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