Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
Pubertät die
audiometrischen Werte beängstigend abfielen, gab es immer weniger Menschen, die
hinreichendes Mitgefühl aufbrachten.
    Vielleicht mit Ausnahme seiner
Mutter.
    Der Grund für das mangelnde
Interesse seiner Umwelt war nicht schwer zu begreifen. Er war ein
unansehnlicher magerer Junge mit Quellaugen, Henkelohren und einer weinerlichen
Stimme, die einen eher auf eine Sprach- als eine Hörbehinderung tippen ließ.
    Doch wäre es übertrieben, den
jungen Harrison als einen unglücklichen jungen Mann darzustellen, der häufig
missverstand und immer wieder missverstanden wurde. Seine Schulkameraden waren
keine hemmungslosen Schläger und seine Lehrer keine herzlose Bande. Es war
einfach so, dass ihn offenbar niemand so richtig mochte, geschweige denn
liebte.
    Vielleicht mit Ausnahme seiner
Mutter.
    Immerhin waren Simon, wie wir
nun wissen, Reste von Hörvermögen geblieben, und die starken Hörhilfen, die er
trug, waren ihm wertvoller als jede mitmenschliche Zuwendung. Als er nach
schweren Jahren mit sehr ordentlichen Noten von der Schule abging, fand er
schnell eine Stellung, die er immer noch innehatte.
    Anfang der neunziger Jahre
hatten die Möglichkeiten, die Oxfordshire für Industrie und
Dienstleistungsgewerbe bot, zahlreiche bedeutende nationale und internationale
Firmen angelockt. So konnte sich damals die Grafschaft rühmen, die größte
Konzentration von Druckereien und Verlagen außerhalb der Metropole zu besitzen.
Und bei einem dieser Verlage, der Daedalus Press in North Oxford, hatte sich
Simon um eine Lehrstelle als Korrektor beworben und war angenommen worden,
zugegebenermaßen vor allem deshalb, weil Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet
sind, einen kleinen Prozentsatz behinderter Bewerber einzustellen. Sehr bald
war Simon zu einem vollgültigen Mitarbeiter geworden. Er war genau, sorgsam und
ordentlich, besaß also exakt die Kombination von Eigenschaften, die ein
Korrektor braucht. Und mit einigem Glück, so sagte man sich in seiner Firma,
würde die Erfahrung nach und nach auch die notwendige zusätzliche Portion
lästiger Pedanterie bringen.
    Am Morgen des 17. Juli, einem
Freitag, fand er auf seinem Schreibtisch einen fotokopierten Artikel aus einem
nicht gekennzeichneten Boulevardblatt, den ein unbekannter Kollege ihm
hingelegt hatte und den er aufmerksam durchlas — einmal und dann noch einmal,
diesmal offenbar weniger auf den Inhalt als auf die äußere Form achtend, denn
der Korrekturstift nahm drei Stellen des Artikels aufs Korn.
     

     
    Chief Inspector Morse kannte
Simon zwar noch nicht, hätte aber dessen Kompetenz als Korrektor sicher zu
schätzen gewusst; allerdings mit Einschränkungen, da er selbst irgendwie und
irgendwo die weiter oben erwähnte zusätzliche Portion lästiger Pedanterie
erworben hatte und weitere Korrekturen vorgenommen hätte. Und natürlich hätte
er den krassen Anachronismus beseitigt. Denn seit seinem zehnten Lebensjahr,
als er es auf sich genommen hatte, die Abfolge der amerikanischen Präsidenten
und die Daten der Könige und Königinnen von England auswendig zu lernen, fühlte
er sich historischer Genauigkeit verpflichtet.
     
     
     
     

Kapitel
8
     
    Banker
sind genau wie andere Menschen.
    Nur
reicher.
    (Ogden
Nash, Ich bin leider hier auch fremd)
     
    Die Londoner Filiale der Swiss
Helvetia Bank verbirgt sich diskret hinter dem Sloane Square. Das
Messingschild, das Besucher zu den Geschäftsräumen weist, ist, wiewohl auf
Hochglanz poliert, unverhältnismäßig klein, aber die Bank hat es auch nicht
nötig, bei potenziellen Kunden Eindruck zu schinden. Hingegen haben es die
Kunden sehr nötig, bei der Bank Eindruck zu schinden.
    Am Freitag, dem 17. Juli, kurz
nach vier, winkte ein modisch gekleideter Mann Ende vierzig dem uniformierten
Wachmann am Ausgang zum Abschied zu und trat in den strahlenden Sommertag
hinaus. Schon herrschte starker Verkehr, was aber Frank Harrison, einen der
sechs Portfolio- und Investmentdirektoren der SHB (London) nicht störte. Bis zu
seiner Firmenwohnung in der Pavilion Road waren es nur wenige Gehminuten.
    Vorhin war er sehr betont das
gewesen, wofür man ihm nicht wenig Geld zahlte — scharfsinnig, überlegen,
vertrauenswürdig —, während seine Sekretärin einem kleinen grauhaarigen Mann
und dessen größeren, viel jüngeren, kosmetisch makellosen Ehefrau Kaffee
einschenkte.
    «Sie wissen, dass die SHB vor
allem an Portfolio-Einlagen ab — sagen wir, ab einer Million Dollar
interessiert ist? Ist das —

Weitere Kostenlose Bücher