Und morgen am Meer
wie in einem Märchenfilm, den ich mal gesehen hatte! Auf jeden Fall musste dieser Anblick in einer meiner Geschichten auftauchen. Das Feld, das unter der morgendlichen Brise wogte, als wäre es ein Meer, lockte mich aus dem Zelt. Es musste wunderbar sein, mitten darin zu stehen.
Jetzt dachte ich nicht mehr an Wildschweine, ich lief einfach los. Die Kornhalme strichen über meine Waden und Unterarme, die borstigen Grannen fühlen sich wie die Beine tausender Grashüpfer an. Ich streckte meine Hände aus, griff nach den Ähren, hielt sie kurz fest, riss sie aber nicht ab, denn ich dachte wieder an die afrikanischen Kinder, die man uns in der Schule auf Bildern gezeigt hatte und die hungern mussten, während wir all diesen Reichtum besaßen.
Nachdem ich ein Stück gegangen war, kam ich an eine Gruppe knorriger Bäume. Als sie noch Scherenschnittumrisse gewesen waren, hatte man nicht genau erkennen können, um welche Art Baum es sich handelte. Doch jetzt sah ich, es waren Apfelbäume. Und die Äste bogen sich vor Früchten!
Mein Jubelschrei scheuchte ein paar wilde Tauben auf, die angestrengt flatternd versuchten, an Höhe zu gewinnen. Ich schaute ihnen kurz nach, dann tauchte ich in die Dunkelheit unterhalb des Blätterdaches ein.
Auch hier kam ich mir wie im Märchen vor. Hatte ich mich je so gefühlt, als ich noch in Berlin war?
Irgendwann musste hier ein Gehöft gestanden haben, man konnte die Grundrisse des Hauses noch erkennen. Hier und da standen noch die Überreste einer halbhohen Mauer, aber auch die würde die Zeit irgendwann verschlingen. Die Bäume weiter hinten hatten knorrige Wurzeln, die teilweise aus dem Boden herausschauten. Wäre ich noch kleiner gewesen, hätte ich mich davor gefürchtet, dass jederzeit die Hexe Baba Jaga auftauchen und mich zu ihrem Hühnerbeinhaus schleppen könnte.
Aber hier gab es nur freundliche alte Bäume, die nur darauf zu warten schienen, dass sich jemand für die Früchte, die sie anboten, interessierte. Ich reckte mich nach einem Ast und riss einen Apfel, der schon leicht gelb wurde, ab. Bestimmt war er noch nicht ganz reif, aber wir konnten einige in Claudius’, Rucksack mitnehmen …
»Milena!«, hörte ich es rufen, bevor ich in die Frucht beißen konnte.
Claudius war wach und suchte mich! Schnell riss ich noch einen Apfel ab und kam dann wieder unter den Bäumen hervor.
»Hier bin ich!«, rief ich, als ich ihn durch das Kornfeld rennen sah. Hatte er geglaubt, ich wäre abhandengekommen? Wer sollte uns in dieser Ödnis finden außer Wildschweinen?
Ich lief ihm mit den Äpfeln in der Hand entgegen. »Schau mal, Sommerscheiben! Davon können wir uns eine Menge mitnehmen.«
»Und wer soll die alle tragen?«, fragte er, während er mich an sich zog und küsste.
»Na das Motorrad! Wir müssen beide Rucksäcke nur gleich füllen, dann kippen wir auch nicht zur Seite. Probier mal!« Ich hielt ihm den Apfel hin und Claudius versenkte die Zähne in der Schale, dass der Saft nur so spritzte. Ich biss wiederum neben die Stelle, in die er gebissen hatte.
»Na, was meinst du?«, fragte ich.
»Nicht schlecht«, antwortete er, mühsam kauend, denn er hatte sich ein wenig an seinem Bissen übernommen.
Ich wartete, bis er fertig war, dann rief ich: »Wer zuerst da ist!«, und rannte los.
Claudius rannte mir hinterher, mitten durch das wogende Feld, und versuchte, mich an den Sachen zu packen. Ich schlug Haken wie ein Kaninchen, lachte und bewarf ihn mit dem halben Apfel.
»Das ist nicht fair!«, tönte er mir hinterher, doch jetzt ging es nicht darum, fair zu sein.
Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so unbeschwert getobt hatte. Offenbar nahm einem das Erwachsenwerden jede Leichtigkeit, erstickte sie unter Schule, Wandzeitungen und anderen Pflichten.
Aber in diesem Augenblick konnten wir wieder albern sein, wie kleine Kinder. Lachend rannten wir auf das alte Gehöft zu, wo er mich einholte, packte und herumwirbelte. Ich zappelte in seinem Griff, und erst, als er mich küsste, hielt ich still und schlang meine Arme um seinen Nacken.
»Du hast gewonnen«, stellte er dann fest. »Und was bekommt der Gewinner? Das hatten wir gar nicht ausgemacht?«
»Gib mir einen Kuss, das reicht mir schon«, entgegnete ich und schlang die Hände um seinen Hals. Der Kuss, den er mir daraufhin gab, war wirklich eine gute Belohnung.
Nachdem wir uns so viele Äpfel geholt hatten, wie wir in unseren Shirts tragen konnten, kehrten wir zum Motorrad zurück. Es zeigte sich, dass
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