Und morgen am Meer
riesigen Schlaglöcher angesehen hatte. »Hier haben wir die beste Chance, die Federbeine kaputtzumachen. Traust du dich, zu wenden?«
Ich traute mich. Und es ging. Zwar wackelig und unsicher, doch dann kehrte ich der kaputten Straße den Rücken und fuhr diesmal schon ein wenig schneller. Die Maschine schien mich zu mögen, und ich hatte vergessen, wie gut es sich anfühlte, auf einem Moped zu sitzen.
Und wenn ich es schaffte, das Motorrad zu lenken, würden wir auch alles andere sicher hinbekommen.
Wieder fuhren wir. Über geflickte und marode Straßen, entdeckten in der Ferne Braunkohletagebau und sahen am Horizont die Berge, die von weitläufigen grünen Baumteppichen bedeckt waren.
Die Armut vieler Dörfer, die wir passierten, berührte und erschütterte mich. Ich kannte die ČSSR nur aus Filmen, und dort wurde natürlich nicht gezeigt, wie die Bauern weit ab von Prag lebten.
Dennoch spielten auf den staubigen Straßen Kinder und rannten uns begeistert hinterher, wenn wir die Dorfstraßen entlangfuhren.
Eines der Dörfer erinnerte mich an meine Kindheit, denn bevor wir nach Berlin zogen, hatten wir in Mecklenburg auf dem Land gewohnt – in einem Dorf mit kleinem Konsum, einer Kneipe und einer LPG . Die Häuser dort hatten denen hier ähnlich gesehen, und auf vielen Gehöften waren Gänse herumgelaufen.
Das hier zu sehen ließ ein Gefühl der Wärme in mir aufsteigen. Damals, als ich noch vor den Nachbarsgänsen weggelaufen war und am Wegrand mit Steinen gespielt hatte, hatte ich noch keine Probleme gehabt und nicht gewusst, dass das Land, das vorgab, für uns zu sorgen, uns eigentlich nur einsperren wollte.
Am Abend suchten wir erneut ein Quartier auf dem Feld. Hier wogte ein Meer aus goldenen Ähren.
»Wenn möglich sollten wir ganz früh aufbrechen«, rief ich Claudius zu, der die Jawa langsam durch die Treckerspur lenkte. »Sonst rücken morgen vielleicht schon die Mähdrescher an!
Auf einer Fläche, die zum Abstellen der Traktoren diente, hielten wir an.
»Oh, guck mal da!«, rief ich, denn vor uns suchten drei kleine, weiß gestreifte Wildschweine das Weite. Waren die niedlich!
»Wollen wir hoffen, dass die Mama nicht in der Nähe ist«, brummte Claudius.
»Die hat sicher mehr Angst vor uns als wir vor ihr«, entgegnete ich, blickte aber doch eine Weile auf die Stelle zwischen den Kornhalmen, an der die Frischlinge verschwunden waren. Doch weder sie noch die Bache ließen sich sehen.
Wieder schlugen wir unser Zelt auf – die Weidenstangen hatten wir mitgenommen – und futterten dann Knäckebrot mit Dauerwurst, Kekse und Schokolade. Danach sahen wir gemeinsam der Sonne zu, wie sie langsam dem Horizont entgegenwanderte.
»Sind die Sonnenuntergänge am Mittelmeer auch so?«, wollte ich von Claudius wissen, denn ich konnte mir kaum etwas Schöneres vorstellen als den orangefarbenen Sonnenball, der von roten, orangen und violetten Wolkenschleiern umhüllt wurde.
»Ja, und doch ein bisschen anders«, antwortete Claudius, dessen Arm um meine Taille lag. »Das Licht ist irgendwie heller, anstelle von Kornfeldern siehst du Olivenhaine und weite Felder mit Lavendel, aus denen zwischendurch ein weißes Haus mit flachem Dach herausragt. Auch die Luft ist anders, trockener. Du wirst es sehen, wenn wir erst mal da sind.«
Das klang wunderbar, so frei, so unbeschwert.
»Und das Meer? Welche Farbe hat es?«
»Kommt auf den Himmel an. Mal ist es blau, dann wieder blaugrün.«
»Ist denn der Himmel auch blaugrün?«
»Nein, aber manchmal so strahlend, dass man tief ins Meer hineinschauen kann, und da unten ist es dann blaugrün.«
Vor meinem geistigen Auge erschien ein fast karibisches Bild – nur dass die Palmen fehlten. Ich wünschte mir in diesem Augenblick so sehr, bereits alle Grenzen hinter mir zu haben. Doch sie lagen noch vor uns, bedrohlich wie ein Gewitter, das in der Lage war, uns zum Innehalten zu zwingen.
Daran wollte ich jetzt allerdings nicht denken. Ich beugte mich zu Claudius, rieb meine Wange an seiner und küsste ganz sanft seine Lippen. Er küsste mich zurück, zog mich dann herum, sodass ich auf seinem Schoß zum Sitzen kam.
Wir sahen einander in die Augen, lange, dann neigten sich unsere Köpfe aufeinander zu und unsere Lippen verschmolzen miteinander.
Diesmal war der Kuss anders als das Rumgeknutsche der vergangenen Tage.
Er brachte unsere Hände dazu, sich zu verselbstständigen, unter das Shirt des jeweils anderen zu gleiten und seine Haut zu streicheln. Claudius’
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