Und morgen am Meer
vermutet.
»Schnapp dir den Ast da!«, rief er von unten, und nachdem ich kurz gezögert hatte, reckte ich mich einfach und klammerte mich an dem Ast fest. Gleichzeitig verlor ich den Halt unter meinem Fuß und hing nun wie ein nasser Sack vom Baum herunter.
»Jetzt zieh dich hoch!«, forderte Claudius, was leichter gesagt war, als getan.
»Geht nicht!«, rief ich zurück. »Was meinst du, warum ich in Sport nur ’ne Drei habe? Hüftaufschwung kann ich nicht und erst recht nicht mich an irgendwas hochziehen!«
»Du musst es versuchen!«, entgegnete Claudius, der unter mir stand wie ein Fänger bei einer Zirkus-Akrobatentruppe.
Ich versuchte es. Und spürte sofort, dass meine Arme nicht stark genug waren. Stattdessen begannen meine Hände zu schmerzen.
»Ich schaff es nicht«, rief ich. Aus Angst, mir den Fuß zu verstauchen, ließ ich aber nicht los.
»Warte, ich komm hoch und zieh dich von oben!«
Es zeigte sich, dass an Claudius wirklich ein Pfadfinder verloren gegangen war, denn er war blitzschnell über die andere Seite oben und setzte sich rittlings auf den Ast. Von dort aus reichte er mir die Hände.
»Halt dich fest!«
Ich wusste nicht, wie ich das machen sollte, denn ich hielt mich ja am Baumstamm fest.
Ohne Vorwarnung zog er mich nach oben, sodass ich mit den Armen auf dem Baum auflag und die Beine nachziehen konnte.
Claudius legte sich rücklings auf den breiten Ast, während ich mich wiederum vorrobbte und auf Claudius legte, dabei die Beine baumeln ließ.
»Ich bin sicher, wir sind bald da«, sagte ich, nachdem wir eine Weile stumm beieinandergelegen hatten. »Wollen wir hoffen, dass sie uns am Grenzübergang rüberlassen.«
»Warum denn nicht?«, fragte Claudius, obwohl wir nicht wussten, ob er auch hier wegen seines fehlenden DDR -Visums Ärger bekommen würde. »Es hat einmal geklappt, dann klappt es auch ein zweites Mal. Außerdem habe ich noch ein bisschen D-Mark im Strumpf. Vielleicht öffnen die uns schneller die Türen, als du denkst.«
Ich kuschelte meine Wange an seine Brust und schaute hinunter auf den Waldboden. Jetzt konnte ich verstehen, was Katzen daran fanden, hoch über allen zu sitzen.
»Es wäre alles leichter, wenn die ČSSR ihre Grenze mittlerweile auch für Flüchtlinge geöffnet hätte … Sie sind ebenfalls Nachbarn von Österreich.« Wäre das nicht klasse, wenn alles doch leichter gehen würde, als wir dachten? Schade nur, dass wir hier nirgends Zeitung lesen oder Nachrichten hören konnten …
»Das wäre beinahe zu schön, um wahr zu sein«, gab Claudius zurück. »Aber Ungarn und Österreich haben halt ein besonderes Verhältnis. Immerhin gehörten sie mal zusammen, hatten sogar denselben Kaiser.«
»Und dieselbe Kaiserin!«
»Du meinst Sissy?«
Ich nickte. »Ja, die mit dem wunderschönen weißen Kleid.«
»Der Film ist total kitschig«, gab Claudius zurück. Klar, für ihn war das nichts, aber ich mochte den Film als Kind sehr gern.
»Kitschig ja, aber die Kleider, die sie getragen hat, waren wunderschön. Ich hab mir früher immer gewünscht, so ein Kleid zu haben.«
»Das muss furchtbar unbequem gewesen sein. Du hättest damit unmöglich auf einen Baum klettern können.«
Das konnte ich in meinem jetzigen Aufzug zwar auch nicht, aber egal. Ich legte mein Ohr an sein Herz. Es schlug gleichmäßig und langsam, offenbar war er ganz ruhig und entspannt.
»Meinst du, dass das auch für uns gilt? Dass auch unsere Länder wieder zusammenwachsen? Immerhin waren wir doch auch mal ein Land.«
Er küsste meine Stirn. »Das hoffe ich zumindest. Zurzeit ist ja nichts gewiss.«
»Nur wir beide.«
»Stimmt, nur wir beide.«
Am nächsten Morgen wurde ich von einem rauen Geräusch geweckt. Zunächst hielt ich es für das Bellen eines Hundes, doch dann bemerkte ich, dass es von Claudius kam. Sein Kopf war hochrot und sein Atem ging rasselnd.
»Claudius?«, fragte ich ängstlich, worauf er ein wenig die Augen öffnete. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er durch mich hindurchsah. Seine Antwort war ein Stöhnen, gefolgt von einem neuerlichen Hustenanfall.
Panik schoss durch meinen Körper. Als ich meine zitternde Rechte auf seine Stirn legte, fühlte ich es. Fieber. Und zwar verdammt hoch.
Die Angst ließ mich aufschluchzen. Claudius war krank! Nach dem Husten zu urteilen war es eine Bronchitis – oder schlimmer noch, eine Lungenentzündung. Wie hatte das so schnell kommen können?
Ich strich ihm übers Gesicht, spürte das Glühen seiner Haut und
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