Und morgen am Meer
Wort?
»Er war in der Kirche zu einem Konzert«, antwortete ich, worauf mich mein Vater schnaufend losließ und sich mit den Händen verzweifelt durchs Haar fuhr.
»Dieser kleine Mistkerl«, schimpfte er los. »Er ist bei diesen Bürgerrechtlern.«
»Bürgerrechtler?«, fragte ich. Mir hatte er nur von dem Konzert und den Diskussionen erzählt
»Womöglich hat er vor abzuhauen. Oder er hat es schon getan«, schimpfte mein Vater weiter.
»Lorenz? Den habe ich doch gestern erst gesehen, das hat er nicht getan«, entgegnete ich, worauf mein Vater sich mir jetzt wieder zuwandte.
»Du wirst dich von ihm fernhalten, hörst du? Und morgen wirst du den Leuten alles sagen, was sie wissen wollen.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Mein Vater hätte natürlich am liebsten gehört, dass ich ihm genau das versprach, aber das konnte ich nicht. Selbst wenn es um Lorenz ginge, was ich bezweifelte, würde ich ihn nicht verraten. Und ich würde auch nicht verraten, dass ich Claudius traf und mit ihm Briefe schrieb. Keiner der beiden war ein Staatsfeind, das wusste ich genau!
»Milena!«, rief mein Vater halb drohend und halb flehend, während sich seine Finger in meinen Arm bohrten.
»Du tust mir weh!«, murrte ich, denn ich war sicher, dass ich morgen an der Stelle, wo seine Finger zugedrückt hatten, blaue Flecken haben würde. Wenn das Frau Schneider sah, würde sie sicher irgendwem Bescheid sagen, dass ich misshandelt wurde.
Der Ruf genügte zum Glück, Papa ließ los. Sah mich glasig an. Fast wirkte er, als wollte er heulen. Doch das täuschte.
»Ich kriege das schon hin«, versprach ich ihm. Und noch eines: »Ich habe nichts Unrechtes getan, Papa, das musst du mir glauben. Ich habe eine Wandzeitung zu spät abgegeben, aber die Artikel darauf hatte ich von Sabines Vater, der Held der Arbeit werden soll, da ist sicher nichts drauf gewesen, was staatsfeindlich ist. Und ich habe auch nichts Staatsfeindliches gesagt!«
Papa sah mich noch immer an. Und zwar so, als würde er mir kein Wort glauben.
»Geh auf dein Zimmer«, sagte er schließlich und wankte in die Küche zurück. Ich hörte, wie er den Kühlschrank aufzog und eine Flasche herausnahm.
22. Juli 1989
Milena
Die ganze Nacht lag ich mit kneifendem Magen im Bett und starrte zum Fenster, durch das der Mondschein hereinfiel.
Dass ich morgen im Büro des Direktors antanzen musste, und das zu Ferienzeiten, war schon schlimm genug.
Doch ich fürchtete, dass nicht nur er mich nach meinen »Westkontakten« fragen würde. Bestimmt war irgendwer von der Stasi mit dabei. Und es war wahrscheinlich, dass sie mich stundenlang löchern und mir drohen würden.
Viel zu früh kam ich am nächsten Vormittag bei der Schule an.
Das Gebäude wirkte so verlassen beinahe gruselig. Ich erwartete fast, dass aus den verschatteten Ecken irgendwelche Monstren springen würden, doch alles, was ich hörte, war ein leises Knacken, das wohl aus dem Werkraum oder sonstwoher kam. Nie war mir aufgefallen, wie hässlich die Pflanzen im Foyer mit ihren braun angelaufenen Blättern waren.
Mit pochendem Herzen schlich ich durch den leeren Gang zum Direktorenbüro. Die Ungewissheit ließ meinen Magen noch immer schmerzen, zwischendurch war mir ganz furchtbar übel, sodass ich schon glaubte, aufs Klo rennen zu müssen.
Wenn es schlecht lief, würden sie mich vielleicht gleich von der Schule schmeißen? Oder in den Jugendwerkhof verfrachten? Am liebsten hätte ich kehrtgemacht und wäre weggelaufen. Irgendwohin, wo sie mich nicht finden konnten. Doch gab es so einen Ort in der DDR überhaupt?
Kurz vor der Tür des Rektorats vernahm ich Stimmen.
Offenbar rechneten sie noch nicht damit, dass ich kommen würde. So leise wie möglich setzte ich mich auf den Stuhl neben der Tür. Begleitet von Zigarettenqualm drangen Worte nach draußen. Zunächst konnte ich mit ihnen nichts anfangen, doch plötzlich wurden sie deutlicher. Der Mann, dessen Stimme ich noch nie zuvor in meinem Leben gehört hatte, sprach über mich.
»Ich glaube Ihnen schon, wenn Sie sagen, dass Fräulein Paulsen eine gute Schülerin ist und sich auch im Kollektiv beteiligt. Und ich bin sicher, dass wir, wenn wir ein Auge darauf haben, das Mädchen dazu bringen können, wieder auf den richtigen Weg zurückzufinden. Doch es steht außer Frage, dass sie vorbelastet ist, und wir nicht wissen, inwiefern sich die Ereignisse der Vergangenheit auf sie ausgewirkt haben.«
Ich und vorbelastet? Was sollte ich denn getan haben?
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