Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
Vom Netzwerk:
Ich hatte es nicht mal gewagt, Micky-Maus-Hefte von Onkel Erwin in die Schule zu schmuggeln. Und im Stabü-Unterricht hatte ich brav nachgebetet, was man mir erzählt hatte, so wie alle anderen Schüler, ob sie nun daran glaubten, oder nicht.
    Und jetzt glaubte der Mann, der sicher von der Stasi war, ich wäre vorbelastet. Hatten die einen Spitzel auf mich angesetzt oder was?
    Immerhin versuchte unser Direktor, mich zu verteidigen.
    »Ich bin sicher, dass sie nichts mit der Sache zu tun hatte. Ja, ihr Vater hat mir versichert, dass sie nichts davon weiß. Ich bin sicher, dass dies nur ein Ausrutscher war und nichts zu bedeuten hat.«
    Jetzt wurde ich stutzig. Was für eine Sache sollte ich nicht wissen? Und wie kam Papa eigentlich dazu, mit dem Direktor zu sprechen. Über was?
    »Auch das glaube ich Ihnen, Genosse Neumann, aber was den Vater des Mädchens angeht … Immerhin war er bei dem Fluchtversuch dabei. Dass es nur seine Frau geschafft hat, war vielen Umständen geschuldet, aber sicher nicht dem, dass er es sich anders überlegt hat.«
    »Aber er hat keinen weiteren Versuch unternommen! Korrigieren Sie mich, aber soweit ich weiß, hat er nicht mal einen Ausreiseantrag gestellt, und Kontakt hatte er zu seiner Frau auch keinen mehr.«
    »Jedenfalls keinen, von dem wir wissen, aber das kriegen wir noch heraus! Irgendwoher musste dieser Brief doch gekommen sein. Vielleicht lebt Frau Paulsen jetzt in Westberlin!«
    Eine Pause entstand, doch mir hallten die Worte wieder und wieder durch den Kopf.
Fluchtversuch … dass es nur seine Frau geschafft hat … Ausreiseantrag … Kontakt zu seiner Frau …
    Ich fühlte mich auf einmal, als wären mehrere Zentnersäcke Kartoffeln auf mich draufgefallen, und ich war viel zu durcheinander, um mir darüber klar werden zu können, was diese Worte bedeuteten. Während eine furchtbare Übelkeit in mir aufstieg – eine Übelkeit, die ich auch durch Kotzen nicht loswerden konnte –, dämmerte mir wie in Zeitlupe, dass meine Mutter gar nicht tot war. Dass Papa mich belogen hatte. Dass Mama in den Westen gegangen war. Und dass sie nie versucht hatte, uns rüberzuholen. Dass Papa nie versucht hatte, zu ihr zu gelangen.
    Nein, das konnte ich nicht glauben. Das war nicht ich, das war nicht meine Familie. Papa hätte mir das nie angetan!
    Aber dennoch, der Stasimann hatte es gesagt. Und die Stasi wusste bekanntlich über alles Bescheid. Ja, sogar unser Direktor schien darüber Bescheid zu wissen. Alle wussten darüber Bescheid – nur ich nicht.
    »Allmählich müsste die Jugendfreundin Paulsen doch erscheinen!«, sagte der Stasimann ungeduldig, was mich aus meiner Starre wieder aufrüttelte.
    Was, wenn sie mitbekommen hatten, dass ich gelauscht hatte. Die Beobachtete hatte die Stasi belauscht, wenn das mal kein Witz war. Nach Lachen war mir aber überhaupt nicht zumute. Nach Weinen jedoch auch nicht.
    Aus dem Erste-Hilfe-Kurs, den wir wegen der Mopedfahrerlaubnis machen mussten, wusste ich, dass manche Verletzte in einen Schockzustand fallen konnten, in dem sie nichts von irgendwelchen Verletzungen merkten. Ich war sicher, dass ich jetzt auch unter Schock stand. Nur dass meine Verletzung nicht zu sehen war.
    Da zu befürchten war, dass entweder der Direktor oder der Stasimann nach draußen kamen, um nachzusehen, entfernte ich mich auf Zehenspitzen ein Stück von der Tür und kehrte dann mit festerem Schritt zurück. Zwischendurch schrie mir eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf zu, dass ich besser rennen sollte. Aber ich ignorierte sie. Ich war fest entschlossen, dem Mann gegenüberzutreten, der so viel mehr über mich und meine Familie wusste als ich selbst. Für einen Moment war ich sogar gewillt, ihn nach meiner Mutter zu fragen. Nach der Wahrheit, die mir selbst mein Vater verheimlicht hatte.
    Doch ich hörte auf die kleine Stimme, die mich warnte. Wenn ich etwas über Mama wissen wollte, musste ich meinen Vater fragen. Fragte ich den Stasimann, gab ich damit entweder zu, gelauscht zu haben, oder – was noch schlimmer war und mir wahrscheinlich auch so ausgelegt werden würde – dass ich von Papa wusste, was damals passiert war.
    Noch einen Moment gönnte ich mir, um meine Angst niederzuringen, die jetzt wieder meine Knie weichmachte. Dann hob ich den Arm und klopfte.
    Im Büro rumorte es. Ich fragte mich, wer mich hereinbitten würde, und hoffte, dass es der Direktor war.
    Doch im Türspalt erschien ein mir unbekannter Mann mit kurz geschorenem dunklem Haar, dessen

Weitere Kostenlose Bücher