Und morgen am Meer
auch schon im Rektorat erzählt hatte. Ich wollte einfach nur meine Ruhe und verdauen, dass mein Vater mich belogen und in meinen Sachen herumgewühlt hatte.
»Lass mich nicht einfach so stehen!«, donnerte er hinter mir her, doch davon ließ ich mich nicht zurückhalten, sondern ging immer weiter. Schloss am Ende die Tür hinter mir. Rechnete fest damit, dass er mir nachkommen und die Standpauke drinnen weiterführen würde. Vorsichtshalber warf ich mich schon mal aufs Bett und krümmte mich zusammen, als erwartete ich eine Tracht Prügel. Mein Vater hatte mich bisher nie geschlagen, aber vielleicht änderte sich das heute ja noch, wo sich heute doch schon alles für mich geändert hatte.
Bange Minuten lag ich vor Zorn und Angst zitternd auf der Liege, doch Papa erschien nicht. Ich hörte die dumpfe Stimme von Mirko im Wohnzimmer. Offenbar diskutierte er mit Papa. Hielt er ihn zurück? Oder erzählte er ihm jetzt, was ich ihm erzählt hatte? Dass ich alles wusste?
Hilflos zog ich »Dshamilja« hervor. Dabei purzelte mir das Bild von Claudius entgegen. Das hatte mein Vater komischerweise dort gelassen, wo es war. Wahrscheinlich, weil er nicht mehr weitergesucht und in das Buch reingeschaut hatte, nachdem er den Brief gefunden hatte.
Ich drückte das Polaroid gegen meine Brust, schloss die Augen und wünschte mir, bei Claudius zu sein. Fern von all den Wahrheiten und Drohungen, die dieser Tag gebracht hatte.
Den ganzen Abend blieb ich in meinem Zimmer und ignorierte, wenn es hin und wieder klopfte. Ich wollte mit niemandem reden, denn ich war sicher, dass Papa mir entweder Vorhaltungen machen oder irgendwelche Lügen auftischen würde. Und Mirko? Den wollte ich erst recht nicht sehen, auch wenn er Papa wohl davon abgehalten hatte, mich zusammenzuscheißen.
Ich wollte einfach nur hier sein, in meinem Zimmer, und wenn es für viele Wochen oder Monate sein würde. Ich hatte ja Claudius’ Bild, immerhin, wenn ich ihn ansah, vergingen all die schlimmen Gefühle in mir und ich verspürte so etwas wie Glück.
Doch dann donnerten Schritte den Gang entlang und die Tür wurde aufgerissen.
Also doch! Papa! Dazu brauchte ich mich nicht einmal umzudrehen.
»Du wirst diesem Westler nicht mehr schreiben, hörst du?«, sagte er bestimmt.
Ich drehte mich nicht zu ihm um und starrte weiterhin die Wand an.
»Hörst du mich?«, fragte mein Vater wütend, obwohl er doch wusste, dass meine Ohren nicht geschädigt waren und ich hörte, ob ich nun darauf reagierte oder nicht.
Ich konnte ihm nicht versprechen, keinen Kontakt mehr zu Claudius zu haben. Ich wollte ihm das einfach nicht versprechen, denn mittlerweile war ich mir sicher, dass ich ohne ihn nicht mehr leben konnte. Und wieso sollte ich ihm überhaupt was versprechen? Er hatte in meinem Zimmer geschnüffelt. Er hatte mir die Wahrheit über meine Mutter, die ich kaum glauben konnte, verschwiegen.
Mein Vater stand noch eine Weile wutschnaubend in der Tür.
Ein wenig hoffte ich, dass er einsehen würde, einen Fehler gemacht zu haben. Doch alles, was er dann sagte, war: »Ich werde nicht zulassen, dass du dir deine Zukunft verbaust und mir Ärger im Kombinat machst. Du wirst keine Post mehr von dem Westler annehmen und auch nicht anders in Kontakt zu ihm treten. Erwische ich dich dabei, kriegst du den ganzen Sommer über Hausarrest. Hast du verstanden?«
Auch jetzt reagierte ich nicht. Noch immer starrte ich zur Wand, jetzt nicht mehr aus Trotz, sondern weil ich meine Tränen nicht mehr länger zurückhalten konnte. Als hätte jemand einen Wasserhahn aufgedreht, flossen sie mir einfach aus den Augen. Dabei schluchzte ich nicht und ich heulte auch nicht, ich weinte stumm vor mich hin.
Irgendwann wurde es Papa dann zu bunt. Er schnaufte noch einmal, sagte aber nichts, sondern verließ mein Zimmer und knallte die Tür zu.
Ich überließ mich noch eine Weile meinen Tränen, wobei ich gar nicht wusste, worüber ich zuerst weinen sollte. Über die Tatsache, dass ich Claudius nicht mehr schreiben sollte? Darüber, dass Mirko und Papa mich verraten hatten? Dass Mama in den Westen geflohen war? Oder dass mich die Stasi von nun an beobachten und versuchen würde, mir in der Schule das Leben schwer zu machen. Dass ich nun ebenso wie Lorenz davon bedroht war, in den Jugendwerkhof zu wandern. Oder vielleicht darüber, dass ich niemanden hatte, mit dem ich darüber reden konnte?
Lorenz mochte mich vielleicht verstehen und wegen der Gethsemanekirche ebenfalls Probleme mit der Stasi
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