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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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sagen konnte, zog sie sich wieder zurück. Was nun? Ich stellte mich neben die Tür des Treppenhauses und verschränkte die Arme vor der Brust. Obwohl es nicht kalt war, fröstelte ich. Lauschte auf die Treppe, doch nichts tat sich. Konnte sie nicht runterkommen? Wollte sie nicht?
    Ich trat von einem Bein aufs andere und spürte ein ungeduldiges Brennen in meiner Brust.
    Das Knattern eines Trabis lenkte mich kurz ab. Ich blickte zur Seite und sah, dass die Kotflügel des Fahrzeugs gelb waren, während der Rest irgendwann mal hellblau gewesen sein musste.
    Als die Tür hinter mir aufgerissen wurde, erschrak ich, denn ich hatte nicht gehört, dass jemand die Treppe heruntergekommen war.
    Milena wirkte vollkommen aufgelöst. Sie trug einen altmodischen braunen Trainingsanzug und trotz des Zwielichtes erkannte ich, dass sie geweint hatte. Was war los?
    »Milena, was …«, begann ich, doch da fiel sie mir auch schon um den Hals. Ganz deutlich spürte ich, wie sehr sie zitterte, und als ich ihren Kopf an meine Schläfe presste, hörte ich, dass ihre Zähne klapperten. Was war passiert?
    »Meine Mutter lebt noch«, antwortete sie, so leise, dass ich es fast nicht verstand. Ich ahnte, dass es besser war, sie an einen anderen Ort zu bringen. Vor ihrer Haustür sollte sie besser niemand sehen.
    »Komm mit«, sagte ich leise in ihr Haar, das nach Shampoo duftete – und nach ihr.
    Wir gingen zum Humannplatz, wo ich hoffte, ungestört mit ihr reden zu können. Den ganzen Weg über ging sie schweigend und mit hängenden Schultern neben mir. An ihrer Stelle wäre ich auch geschockt gewesen, wenn ich so etwas erfahren hätte. Aber ich spürte, dass das nicht ihr einziges Problem war. Etwas schien furchtbar schwer auf ihrer Seele zu lasten. Etwas, das sie mir nicht unterwegs anvertrauen wollte. Unruhe verbiss sich in meinem Magen wie ein wild gewordener Köter. Was war nur los? War ich etwa zu spät? Hatte sie den Ärger, vor dem ich sie eigentlich bewahren wollte, schon bekommen?
    »Ich hab mich rausgeschlichen«, erklärte sie, als wir uns auf der Bank niedergelassen hatten. Über uns am Himmel erschienen die ersten Sterne. Das hätte romantisch sein können, aber wir beide hatten keinen Blick dafür. »Es hat furchtbaren Ärger wegen deines Briefes gegeben. Wenn Papa mich erwischt …« Sie schluckte und schüttelte den Kopf, als wollte sie einen unliebsamen Gedanken vertreiben.
    Ich fragte mich, was der Brief mit ihrer Mutter zu tun hatte.
    »Erzähl mir am besten alles von Anfang an«, sagte ich, während ich meinen Arm um ihre Schultern legte. Milena schmiegte sich an mich. Ein etwas seltsamer Geruch ging von ihr aus, den ich noch nie zuvor an ihr wahrgenommen hatte. Hatte das mit dem Ärger zu tun?
    Milena erzählte mir davon, wie ihre Klassenlehrerin gestern bei ihr aufgetaucht war und sie heute zum Direktor musste. Und was sie dann vor seiner Tür belauscht hatte …
    »Sie ist rübergegangen«, erklärte sie wie betäubt.
    »Und wohin?«
    »Das weiß ich nicht.« Ein Geräusch, das sich wie ein Schluchzen anhörte, entschlüpfte ihrer Kehle. »Ich weiß nur, dass mein Vater die ganze Zeit über gelogen hat. Und als wäre das noch nicht genug, haben sie versucht, Informationen über dich aus mir rauszupressen. Sie haben mir gedroht, dass ich kein Abitur machen dürfe, wenn ich weiterhin Kontakt zu dir halte, und dass sie mich womöglich in den Jugendwerkhof schicken, weil ich dabei bin, von der rechten Spur abzukommen.«
    Jetzt brach sie in Tränen aus. Ich hielt sie fest und fühlte mich dabei so hilflos. Ich konnte nicht glauben, was sie da erzählte. War es wirklich verboten, sich gegenseitig Briefe zu schreiben? Oder hatte das was mit der Flucht ihrer Mutter zu tun? Die Geschichte kam mir furchtbar verworren vor.
    Milena brauchte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Meine Schulter war ganz nass von ihren Tränen, aber das war nicht so wichtig. Am liebsten hätte ich sie jetzt mitgenommen, zu mir nach Hause, in mein Zimmer, egal, was die DDR und meine Eltern dazu sagten. Aber der Park war unsere einzige Zuflucht. Die wenigen Kinder, die trotz Einbruch der Dunkelheit noch hier draußen waren, kümmerten sich nicht um uns.
    Nach einer Weile beruhigte sich Milena wieder ein bisschen. Ich suchte in meiner Tasche nach einem Taschentuch, fand aber keines.
    Milena wischte sich mit dem Ärmel ihrer Trainingsjacke über die Nase und das Gesicht. Durch die Rötung schienen ihre Augen regelrecht zu glühen.

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