Und morgen am Meer
zu leben hat.«
»Das ist ja gruselig«, antwortete ich. »Und wenn er nur einmal ruft oder zweimal?«
»Die Male werden natürlich mit zehn multipliziert«, gab Milena zurück. »Wenn’s nach dem Kuckuck da draußen geht, werden wir mindestens hundertfünfzig.«
»Hast du mitgezählt?«
»Ja, das mache ich immer, wenn ich einen Kuckuck höre«, entgegnete sie. »Dabei erinnere ich mich an Opa.«
»Hast du ihn sehr gemocht?«
Milena nickte. »Ja, manchmal mehr als Papa. Mein Vater kann sehr abweisend sein.«
»Ihm liegt bestimmt viel auf der Seele. Die Sache mit deiner Mutter war sicher hart für ihn.«
Milena schwieg einen Moment, dann nickte sie. »Ja, mag sein. Bei Opa war das anders. Er hatte immer irgendwelche Geschichten für mich. Mittlerweile frage ich mich aber, ob er es mir erzählt hätte, wenn ich gefragt hätte.«
»Früher oder später wäre es rausgekommen«, entgegnete ich. »Die Wahrheit kommt immer ans Licht. Stell dir mal vor, eines Tages wird alles anders. Vielleicht fallen irgendwann die Grenzen doch, und dann kann deine Mutter zu dir kommen.«
»Sie hätte es all die Jahre versuchen können.«
»Hat sie vielleicht. Aber wenn ihre Briefe von der Stasi abgefangen wurden? Wenn sie euch deshalb überwacht haben, wäre das möglich. Sie haben ja sogar von unseren Briefen erfahren, und das recht schnell.«
Milena biss nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, dann nickte sie. »Ja, möglich wäre das wirklich. Ich hoffe, ich erfahre irgendwann, was damals wirklich passiert ist. Warum sie getrennt wurden und so weiter.«
»Das wirst du. Bestimmt.«
Da der Kuckuck keine Ruhe gab und wir weitermussten, schälten wir uns aus dem Zelt und begannen, das Lager abzubrechen.
»Was machen deine Blutergüsse?«, fragte Milena, während sie in ihrem Rucksack nach der Heparin-Salbe suchte.
»Woher soll ich das wissen?«, fragte ich, während ich mein T-Shirt hochzog. Der riesige Bluterguss an meiner Seite war natürlich noch da, doch mittlerweile hatte er eine andere Farbe bekommen. Aus dem dunklen Rotblau wurde allmählich ein Gelbschwarz. Nicht gerade eine Verbesserung, wie ich fand, doch Milena schien zufrieden zu sein.
»Noch ein paarmal diese Salbe und er ist weg.«
Wieder spürte ich ihre Fingerspitzen auf mir. Die Salbe war eklig, aber das Gefühl, wenn sie mich berührte, genauso einmalig wie ihr Duft, wenn sie neben mir schlief. Ich schloss die Augen.
»Tut’s weh?«, fragte sie, als sie das bemerkte.
»Nur ein bisschen«, antwortete ich, was eigentlich nicht stimmte, denn ihre Berührung war so leicht und zärtlich, dass es eher kitzelte als schmerzte.
Als sie fertig war, tat es mir fast leid, denn ich wünschte, sie hätte weitergemacht. Der Gedanke, ihre Hände überall auf meiner Haut zu spüren, erregte mich ziemlich.
Doch ich kam sehr schnell wieder auf den Boden der Tatsachen, als ich ein Martinshorn heranrasen hörte.
Milena erstarrte, dann packte sie mich am Arm und zog mich mit sich in die Hocke.
»Meinst du, dass das die Polizei ist?«, fragte ich, erhielt aber keine Antwort. Als das Geräusch ganz nahe war, schob Milena vorsichtig den Kopf über die Ähren hinweg. Ich hielt die Luft an. Was sollten wir tun, wenn jetzt ein Suchtrupp anrückte?
Dann atmete sie auf.
Im nächsten Augenblick sah ich ein kleines, an den Ecken abgerundetes, eierschalenfarbenes Fahrzeug mit dem roten Kreuz an den Seitenfenstern, das mich irgendwie an die Krankenwagen in den 60er-Jahren erinnerte. In einer Ausstellung hatte ich so was mal gesehen.
»Ist das ein Krankenwagen?«, fragte ich, während sich die Sirene wieder entfernte.
»Ja, wieso?«
»Bei uns sehen die Krankenwagen vollkommen anders aus. Viel größer.«
»Tja, bei uns ist eben vieles anders. Das da eben war ein Barkas 1000. Ich kann dir nicht sagen, wie die von innen aussehen, aber sie erfüllen ihren Zweck.«
Ich hatte da so meine Zweifel. »Besonders schnell ist er nicht gefahren.«
Milena hob die Augenbrauen. »Der hatte doch mindestens hundert Sachen drauf! Das nennst du nicht schnell? Wie viel fahren denn die Krankenwagen bei euch?«
»Wenn sie können, wesentlich mehr. Allerdings ist auf unseren Straßen mehr los.«
»Dann gleicht sich das ja wieder aus, denn wie du siehst, kommt hier nur alle naselang was vorbei.«
Damit richtete sie sich wieder auf und schleppte den Rucksack zum Motorrad.
Als wir losfuhren, färbte die Sonne den Wald rings um uns golden und ließ die Straße vor uns strahlen, als wollte sie
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