Und morgen in das kühle Grab
gelegen
hatte? Auf meiner Fahrt nach Hause hatte ich mittlerweile
fast die County-Grenze erreicht. Kurz entschlossen
wendete ich bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zurück
nach Westchester.
Eine Dreiviertelstunde später saß ich zusammen mit
Vivians Vater im Wartezimmer vor der Intensivstation des
Briarcliff Manor Hospitals. Tränen liefen ihm über die
Wangen – Tränen der Erleichterung und der Angst.
»Carley«, sagte er, »sie ist bisher nur kurz bei Bewusstsein
gewesen, aber sie kann sich anscheinend an nichts
erinnern. Sie haben sie gefragt, wie alt sie ist, und sie hat
geantwortet: sechzehn. Sie glaubt, dass sie sechzehn ist.
Was hat sie sich bloß angetan?«
Oder was hat jemand anders ihr angetan, dachte ich,
während ich meine Hand auf die seine legte. Ich suchte
nach Worten, die ihn trösten könnten. »Sie lebt«, sagte
ich. »Es ist ein Wunder, dass sie nach fünf Tagen in dem
Wagen immer noch am Leben ist.«
Detective Shapiro stand in der Tür des Wartezimmers.
»Wir haben mit den Ärzten gesprochen, Mr. Desmond.
Es ist ausgeschlossen, dass Ihre Tochter fünf Tage in dem
Wagen gelegen hat. Wir wissen, dass sie noch vor zwei
Tagen die Handynummer von Nick Spencer gewählt hat.
Es wäre schön, wenn Sie sie dazu bringen könnten, sich
vernünftig mit uns zu unterhalten.«
38
VIER STUNDEN LANG leistete ich Allan Desmond
Gesellschaft, bis seine Tochter Jane, die in Boston einen
Flieger genommen hatte, im Krankenhaus eintraf. Sie war
ein oder zwei Jahre älter als Vivian und sah ihr so ähnlich,
dass ich überrascht zusammenzuckte, als sie das
Wartezimmer betrat.
Beide bestanden darauf, dass ich dabei sein sollte, wenn
Jane mit Vivian sprach – oder zumindest versuchte, mit ihr
zu sprechen. »Sie haben gehört, was die Polizei gesagt
hat«, meinte Allan Desmond. »Sie sind Journalistin,
Carley. Machen Sie sich Ihr eigenes Bild.«
Ich stand neben ihm am Fußende des Bettes, als Jane
sich über Vivian beugte und sie auf die Stirn küsste. »Hey,
Viv, was machst du denn für Sachen? Wir haben uns
Sorgen um dich gemacht.«
Aus einem Infusionsbehälter tropfte klare Flüssigkeit in
Vivians Arm. Ein Monitor über ihrem Bett zeigte
Herzschlag und Blutdruck an. Sie war kreidebleich, und
ihre dunklen Haare bildeten einen starken Kontrast zu
ihrer Hautfarbe und dem Bettzeug. Als sie allmählich zu
sich kam, fielen mir wieder ihre sanften braunen Augen
auf, auch wenn sie jetzt trübe aussahen.
»Jane?« Ihre Stimme klang anders.
»Ich bin da, Viv.«
Vivian sah sich um, dann blieb ihr Blick an ihrem Vater
hängen. Ein verwirrter Ausdruck erschien auf ihrem
Gesicht.
»Warum weint denn Daddy?«
Sie klingt so jung, dachte ich.
»Daddy, nicht weinen«, sagte Vivian und schloss ihre
Augen wieder.
»Viv, weißt du, was mit dir passiert ist?« Jane Desmond
strich mit einem Finger über das Gesicht ihrer Schwester,
um sie wach zu halten.
»Mit mir passiert ist?« Vivian hatte sichtlich Mühe, sich
zu konzentrieren. Wieder wirkte sie so verwirrt. »Nichts
ist passiert. Ich bin gerade aus der Schule gekommen.«
Ein paar Minuten später verließen wir das Zimmer; Jane
Desmond und ihr Vater begleiteten mich zum Aufzug. »Es
ist doch eine bodenlose Unverschämtheit von der Polizei,
zu behaupten, sie würde das alles nur vortäuschen«,
schnaubte Jane empört.
»Wenn sie das wirklich glauben, sind sie auf dem
Holzweg. Das war nicht gespielt«, sagte ich nachdenklich.
Es war neun Uhr, als ich endlich zu Hause war. Casey
hatte jeweils um vier, um sechs und um acht Uhr eine
Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen. Es
war jedes Mal der gleiche Wortlaut. »Ruf mich bitte an,
egal, wann du nach Hause kommst, Carley. Es ist sehr
wichtig.«
Er war zu Hause. »Ich bin gerade erst gekommen«, sagte
ich zur Entschuldigung. »Warum hast du mich nicht auf
dem Handy angerufen?«
»Hab ich ja. Sogar öfters.«
Ich hatte das Verbotsschild im Krankenhaus beachtet
und das Handy ausgeschaltet, und anschließend hatte ich
vergessen, es wieder einzuschalten und die Nachrichten
abzuhören.
»Ich habe mit Vince über deinen Wunsch gesprochen,
mit Nicks Schwiegereltern zu reden. Ich muss sehr
überzeugend gewesen sein – oder aber die Sache mit
Vivian Powers hat sie aufgerüttelt. Jedenfalls sind sie
bereit, sich mit dir zu unterhalten, wann immer es dir
passt. Ich vermute, du hast das mit Vivian Powers gehört,
Carley.«
Ich berichtete ihm von
Weitere Kostenlose Bücher