Und morgen in das kühle Grab
weitersuchen, bis sie auch das
Gewehr finden würden. Mrs. Morgan würde ihnen
erzählen, dass er oft zum Grab gefahren war. Am Ende
würden sie es herauskriegen.
Um vier Uhr beschloss er, nicht mehr länger zu warten.
Der Friedhof war wie ausgestorben. Er fragte sich, ob
Annie sich auch so sehr nach ihm sehnte wie er sich nach
ihr. Der Boden war nach wie vor so locker, dass es ein
Leichtes war, das Gewehr und die Schachtel mit der
Munition auszugraben. Eine Weile blieb er noch auf dem
Grab sitzen. Es war ihm gleichgültig, dass seine Kleider
feucht und schmutzig wurden. Einfach dort zu sitzen,
verschaffte ihm das Gefühl, Annie nahe zu sein.
Es gab immer noch ein paar Dinge – ein paar Leute –,
um die er sich kümmern musste, aber wenn er erst alles
erledigt hätte, was noch zu erledigen war, dann würde er
das nächste Mal hier bleiben und nie mehr fortgehen. Für
einen kurzen Augenblick spürte er die Versuchung, es
gleich jetzt zu tun. Er wusste, wie man es anstellen
musste. Die Schuhe ausziehen. Den Lauf in den Mund
schieben und mit der Zehe den Abzug betätigen.
Er musste lachen, weil er sich erinnerte, dass er das
einmal gemacht hatte, als das Gewehr nicht geladen war,
nur um Annie ein bisschen zu ärgern. Sie hatte geschrien
und war in Tränen ausgebrochen, und dann war sie zu ihm
gerannt und hatte ihn an den Haaren gezogen. Es hatte
nicht wehgetan. Er hatte zuerst gelacht, aber dann hatte es
ihm Leid getan, weil sie so furchtbar erschrocken war.
Annie liebte ihn. Sie war die Einzige, die ihn je geliebt
hatte.
Ned stand langsam auf. Seine Kleider waren wieder so
dreckig, dass die Leute sicher auf ihn aufmerksam würden,
wenn er sich irgendwo blicken ließe. Also ging er zurück
zu seinem Van, wickelte das Gewehr in die Decke und
fuhr zu seiner Wohnung.
Mrs. Morgan würde zuerst dran sein.
Er duschte, rasierte sich und kämmte sich die Haare.
Dann holte er seinen dunkelblauen Anzug aus dem
Schrank und legte ihn aufs Bett. Den hatte Annie ihm zum
Geburtstag geschenkt, vor vier Jahren. Er hatte ihn nur ein
paarmal getragen. Er hasste es, sich fein zu machen. Aber
jetzt zog er ihn an, zusammen mit einem Hemd und einer
Krawatte. Er tat es für sie.
Er lief hinüber zur Frisierkommode. Alles war hier
genau so, wie Annie es hinterlassen hatte. Die Schachtel
mit den Perlen, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte,
war in der obersten Schublade. Annie hatte sie geliebt. Sie
hatte zwar gesagt, er hätte nicht hundert Dollar dafür
ausgeben dürfen, aber sie hatte sie geliebt. Er nahm die
Schachtel heraus.
Von oben hörte er die Schritte von Mrs. Morgan. Sie
beschwerte sich immer, dass er so unordentlich sei. Sie
hatte sich bei Annie über den vielen Kram in der Garage
beschwert. Sie hatte sich über die Art beschwert, wie er
den Müll entsorgte, weil er die Säcke nicht zuband, wie sie
sagte, sondern sie einfach in die großen Tonnen an der
Seite des Hauses warf. Immer war sie Annie mit
irgendwelchen Dingen in den Ohren gelegen, und jetzt, wo
Annie tot war, wollte sie ihn hinauswerfen.
Ned lud das Gewehr und ging die Treppe hinauf. Er
klopfte an die Tür.
Mrs. Morgan öffnete, ließ aber die Kette eingehängt. Er
wusste, dass sie Angst vor ihm hatte. Aber als sie ihn
erblickte, lächelte sie und sagte: »Oh, Ned, Sie sehen aber
gut aus heute. Fühlen Sie sich besser?«
»Ja. Und in ein paar Minuten werde ich mich sogar noch
besser fühlen.«
Er hielt das Gewehr seitlich verborgen, sodass sie es
durch die nur ein paar Zentimeter geöffnete Tür nicht
sehen konnte.
»Ich bin gerade dabei, die Sachen in der Wohnung
auszusortieren. Annie mochte Sie wirklich sehr gerne, und
ich möchte, dass Sie die Perlen von ihr bekommen. Darf
ich reinkommen und sie Ihnen übergeben?«
Er registrierte das Misstrauen in Mrs. Morgans Augen
und wie sie sich nervös auf die Unterlippe biss. Aber dann
hörte er, wie die Kette ausgehängt wurde.
Ned drückte schnell die Tür auf und stieß sie zurück. Sie
stolperte und fiel. Als er sein Gewehr auf sie richtete, sah
er den Ausdruck in ihrem Gesicht. Es war genau der
Ausdruck, den er sehen wollte – die Gewissheit, im
nächsten Augenblick sterben zu müssen, der gleiche
Ausdruck, den er auf Annies Gesicht gesehen hatte, als er
nach dem Zusammenprall mit dem Laster auf das Auto
zugestürzt war.
Das Einzige, was ihn störte, war, dass Mrs. Morgan ihre
Augen schloss, bevor er sie erschoss.
Sie würden sie nicht vor
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