Und morgen in das kühle Grab
gesehen, und dann ist ihnen wahrscheinlich aufgegangen,
dass ich auch ein Opfer bin, genau wie sie.«
»Lynn, wie denkst du eigentlich heute über deinen
Mann?«
Es war eine Frage, die ich stellen musste, es war die
Frage, derentwegen ich gekommen war.
Lynn blickte an mir vorbei. Sie kniff ihren Mund
zusammen. Sie faltete die Hände, stöhnte auf und löste sie
sofort wieder. »Carley, alles ist so schnell gegangen. Der
Absturz mit dem Flugzeug. Ich konnte zuerst nicht
glauben, dass Nick tot war. Er war ein so überragender
Mensch. Du hast ihn kennen gelernt, und du hast das
bestimmt auch gespürt. Ich habe an ihn geglaubt. Es war
ein Mensch, der von seiner Mission überzeugt war. Er
sagte Dinge wie: ›Lynn, ich werde den Krebs besiegen,
aber das ist erst der Anfang. Wenn ich an Kinder denke,
die taub, blind oder geistig behindert geboren werden,
oder mit Spina bifida, und ich gleichzeitig sehe, dass wir
kurz davor stehen, solche angeborenen Defekte verhüten
zu können, dann könnte ich wahnsinnig werden, dass wir
immer noch nicht mit dem Impfstoff auf dem Markt
sind.‹«
Ich war Nicholas Spencer nur einmal begegnet, aber ich
hatte öfter Interviews mit ihm im Fernsehen gesehen. Ob
bewusst oder unbewusst, aus Lynns Stimme meinte ich
Nicks Tonfall herauszuhören, jene kraftvolle Leidenschaft,
die mich so stark beeindruckt hatte.
Sie zuckte die Achseln. »Inzwischen frage ich mich, ob
mein Zusammenleben mit ihm vielleicht nur auf einer
Lüge beruhte. Hat er mich lediglich deswegen ausgesucht
und geheiratet, weil ich ihm Zugang zu Leuten
verschaffen konnte, die er sonst vielleicht nicht kennen
gelernt hätte?«
»Wie hast du ihn denn kennen gelernt?«, fragte ich.
»Er kam vor ungefähr sieben Jahren zu der PR-Firma, in
der ich arbeite. Zu unserem Kundenkreis gehören nur
Topunternehmen. Er wollte die Werbung für seine Firma
ankurbeln und die Nachricht über den Impfstoff, den sie
entwickelten, in der Öffentlichkeit verbreiten. Danach hat
er mich zum Essen eingeladen. Äußerlich muss ich ihn an
seine erste Frau erinnert haben. Ich weiß nicht, was es
war. Selbst mein Vater hat das Geld verloren, das er fürs
Alter zurückgelegt hat, weil er Nick vertraute. Falls er Dad
wirklich bewusst betrogen hat, genau wie all die anderen
Leute, dann hat der Mann, den ich geliebt habe, nie
existiert.«
Sie zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Gestern
waren zwei Vorstandsmitglieder bei mir. Je mehr ich
erfahre, desto fester bin ich davon überzeugt, dass Nick
von Anfang an ein Betrüger war.«
Ich beschloss, dass es an der Zeit war, ihr zu sagen, dass
ich einen Hintergrundartikel über ihn für die Wall Street
Weekly schreiben würde. »In dem Artikel werde ich meine
Meinung über den Fall zum Ausdruck bringen, ohne auf
irgendetwas Rücksicht zu nehmen«, sagte ich.
»Ich glaube, das Urteil wird eindeutig ausfallen.«
Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte. Ich nahm den
Hörer auf und reichte ihn Lynn. Sie lauschte, seufzte und
sagte: »Gut, sie können raufkommen.« Sie übergab mir
den Hörer und sagte: »Zwei Leute von der Polizei in
Bedford, die mit mir über den Brand reden wollen. Lass
dich nicht aufhalten, Carley.«
Ich wäre liebend gern bei dem Gespräch dabei gewesen,
aber man hatte mich weggeschickt. Ich legte den Hörer
auf, griff nach meiner Handtasche, und dabei fiel mir
etwas ein.
»Lynn, ich fahre morgen nach Caspien.«
»Caspien?«
»Die Stadt, in der Nick aufgewachsen ist. Kennst du
irgendjemanden dort, mit dem ich sprechen sollte? Ich
meine, hat Nick je irgendwelche guten Freunde erwähnt?«
Sie dachte einen Moment über meine Frage nach,
schüttelte dann den Kopf. »Ich kann mich an niemanden
erinnern.« Plötzlich blickte sie an mir vorbei zur Tür und
zuckte zusammen. Ich wandte den Kopf, um zu sehen, was
sie erschreckt hatte.
Ein Mann stand in der Tür. Eine Hand hielt er unter der
Jacke verborgen, die andere steckte in der Hosentasche.
Sein Schädel war ziemlich kahl, der Mann selbst sah
bleich aus und hatte eingefallene Wangen. Ob er krank
war? Er starrte uns an, dann blickte er schnell auf den
Flur. »‘tschuldigung. Ich glaube, ich bin im falschen
Stockwerk«, murmelte er und war auch schon
verschwunden.
Einen Augenblick später erschienen zwei uniformierte
Beamte im Türrahmen, und ich machte mich auf den Weg.
9
AUF DEM RÜCKWEG hörte ich in den Nachrichten, die
Polizei vernehme zurzeit eine Person, die verdächtigt
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