Und morgen in das kühle Grab
nicht besonders lange gedauert, keine
anderthalb Stunden. Um neun Uhr war ich aus meiner
Garage gefahren, und um zwanzig nach zehn passierte ich
das Schild »Willkommen in Caspien«. Das Schild war aus
Holz geschnitzt, und darauf abgebildet war ein Soldat aus
der Revolutionszeit, der eine Muskete im Arm hielt.
Ich fuhr eine Weile durch die Straßen, um die
Atmosphäre des Ortes auf mich wirken zu lassen. Fast
überall standen einstöckige Cape-Cod-Häuser und
Splitlevels, wie man sie Mitte der fünfziger Jahre gebaut
hat. Viele waren mittlerweile umgebaut und vergrößert
worden, und es war genau zu sehen, wo bereits eine neue
Generation die ursprünglichen Besitzer, Veterane des
Zweiten Weltkriegs, abgelöst hatte. Fahrräder und
Skateboards lehnten in Carports oder neben
Seiteneingängen. In der Mehrzahl waren die Autos, die in
den Einfahrten oder an den Straßen parkten,
Geländewagen oder geräumige Limousinen.
Es war ein Ort, in dem vor allem Familien lebten. Fast
alle Häuser waren gut in Schuss. Und wie in jedem
Wohngebiet, gab es ein Viertel, in dem die Häuser und
Grundstücke größer waren. Was jedoch fehlte, waren
richtige herrschaftliche Häuser. Ich zog daraus den
Schluss, dass diejenigen Leute, die zu Reichtum kamen,
lieber ihr Häuschen verkauften und in eines der nahe
gelegenen teuren Städtchen zogen, nach Greenwich,
Westport oder Darien.
Ich fuhr langsam die Main Street entlang, durch das
Zentrum von Caspien. Vier Häuserblocks lang gab es dort
den üblichen Mix von Kleinstadtgeschäften:
Kaufhausfilialen von Gap, J. Crew und Pottery Barn, ein
Möbelgeschäft, ein Postamt, einen Kosmetiksalon, einen
Pizza-Imbiss, ein paar Restaurants, einen
Versicherungsmakler. Ich bog ab und kurvte durch einige
der angrenzenden Blocks. In der Elm Street passierte ich
ein Beerdigungsinstitut und ein Einkaufszentrum mit
Supermarkt, chemischer Reinigung, Spirituosengeschäft
und Kino. In der Hickory Street stieß ich auf ein
Imbisslokal und gleich daneben auf ein zweistöckiges
Gebäude, über dessen Eingang der Schriftzug CASPIEN
TOWN JOURNAL prangte.
Auf meinem Stadtplan hatte ich Winslow Terrace
markiert, eine Wohnstraße, die vom Ende der Main Street
abzweigte. Dort befand sich das Elternhaus Spencers. Als
ich an der Hausnummer einundsiebzig anhielt, gewahrte
ich ein größeres Holzhaus mit überdachtem Eingang aus
der Zeit der Jahrhundertwende, eins dieser Häuser, in dem
ich selbst aufgewachsen war. Am Eingang war ein
Holzschild, auf dem zu lesen stand: »Philip Broderick,
M. D.«. Ich fragte mich, ob Dr. Broderick seine
Wohnräume in der oberen Etage hatte, wo auch die
Familie Spencer gewohnt hatte.
In einem Interview hatte Nicholas Spencer seine
Kindheit in den schönsten Farben geschildert: »Ich wusste,
dass ich meinen Vater nicht stören durfte, wenn er
Patientenbesuch hatte, aber allein zu wissen, dass er dort
eine Treppe tiefer war, nur wenige Schritte entfernt, gab
mir ein großes Gefühl der Geborgenheit.«
Ich hatte vor, Dr. Philip Broderick einen Besuch
abzustatten, allerdings erst später. Also fuhr ich zurück
zum Gebäude des Caspien Town Journal, parkte das Auto
am Gehweg und ging hinein.
Die dicke Frau am Empfang war so intensiv mit dem
Internet beschäftigt, dass sie erschrocken hochfuhr, als ich
die Tür öffnete. Sofort jedoch lächelte sie mich freundlich
an. Sie begrüßte mich mit einem herzlichen »Guten
Morgen« und fragte, womit sie mir helfen könne. Ihre
hellblauen Augen blickten mich hinter einer randlosen
Brille erwartungsvoll an.
Ich fand es besser, mich nicht als Reporterin der Wall
Street Weekly vorzustellen, sondern einfach nach
Restexemplaren der Zeitung aus der letzten Zeit zu fragen.
Spencer war vor fast drei Wochen mit dem Flugzeug
abgestürzt. Der Skandal mit dem fehlenden Geld und dem
Impfstoff war jetzt zwei Wochen alt. Es war zu erwarten,
dass in der Zeitung seiner Heimatstadt über beide
Ereignisse ausführlich berichtet worden war.
Die Frau war zu meinem Erstaunen nicht im Geringsten
daran interessiert, den Grund für meinen Wunsch zu
erfahren. Sie verließ die Eingangshalle und kehrte gleich
darauf mit den Ausgaben der letzten Wochen zurück. Ich
bezahlte drei Dollar für die Zeitungen, klemmte sie mir
unter den Arm und machte mich auf den Weg in das
Imbisslokal nebenan. Zum Frühstück hatte ich lediglich
einen halben englischen Muffin und eine Tasse
Pulverkaffee zu mir genommen und
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