Und morgen in das kühle Grab
bereitete.
»Ned, es gibt da ein Problem.« Jetzt war der mitfühlende
Ton verflogen, sie war ganz Geschäftsfrau geworden. »Ihr
Mietvertrag läuft zum ersten Juni aus. Mein Sohn heiratet
demnächst und benötigt die Wohnung. Es tut mir Leid,
aber Sie wissen ja, wie das ist. Ich will Ihnen aber im
Andenken an Annie entgegenkommen. Sie können den
Mai über noch bleiben und brauchen keine Miete zu
zahlen.«
Eine Stunde später machte er einen Abstecher nach
Greenwood Lake. Einige der alten Nachbarn waren
draußen beim Rasenmähen. Vor dem Grundstück, auf dem
ihr Haus gestanden hatte, parkte er den Wagen. Alles war
nur noch eine einzige Rasenfläche. Sogar die Blumen, die
Annie mit so viel Liebe gepflanzt hatte, waren
verschwunden. Die alte Mrs. Schafley, die Nachbarin auf
der anderen Seite ihres ehemaligen Anwesens, war damit
beschäftigt, die Mimosensträucher auf ihrem Hof zu
schneiden. Sie blickte auf, sah ihn und lud ihn auf eine
Tasse Tee ein.
Sie servierte selbst gebackenen Mokkakuchen und
erinnerte sich sogar daran, dass er viel Zucker in seinen
Tee mochte. Sie setzte sich ihm gegenüber. »Sie schauen
schlimm aus, Ned«, sagte sie, während ihr Tränen in die
Augen stiegen.
»Annie wäre nicht glücklich, wenn sie wüsste, dass Sie
Ihr Äußeres so vernachlässigen. Sie hat immer darauf
geachtet, dass Sie gepflegt aussehen.«
»Ich muss ausziehen«, sagte er. »Die Vermieterin will
die Wohnung für ihren Sohn haben.«
»Ned, wo werden Sie hinziehen?«
»Ich weiß es nicht.« Ned kämpfte immer noch mit einem
Rest von Benommenheit wegen des Schlafmittels. Dann
hatte er eine Idee. »Mrs. Schafley, könnte ich das
Gästezimmer bei Ihnen für eine Weile mieten, so lange,
bis ich etwas gefunden habe?«
Er konnte die Ablehnung in ihren Augen sehen. »Annie
zuliebe«, setzte er hinzu. Er wüsste, dass Mrs. Schafley
Annie sehr gemocht hatte. Aber sie schüttelte den Kopf.
»Ned, dass würde nicht gut gehen. Sie sind nicht der
Ordentlichste. Annie musste Ihnen immer alles hinterher
räumen. Das Haus hier ist klein, und es würde mit
Sicherheit im Streit enden.«
»Ich dachte, Sie mögen mich.« Ned fühlte, wie die Wut
in ihm aufstieg und ihm die Kehle zuschnürte.
»Natürlich mag ich Sie«, sagte sie besänftigend. »Aber
es ist doch etwas anderes, wenn man mit jemandem
zusammenwohnt.« Sie blickte aus dem Fenster. »Oh,
schauen Sie, da ist Harry Harnik.« Sie lief zur Tür und rief
ihm zu, er möge herüberkommen. »Ned ist zu Besuch«,
rief sie.
Harry Harnik war jener Nachbar, der Interesse am Kauf
des Hauses gezeigt hatte, weil er sein Grundstück
vergrößern wollte. Wenn Harry ihm kein Angebot
gemacht hätte, dann hätte er das Haus nicht verkauft und
das Geld nicht in diese Firma gesteckt. Jetzt war Annie tot,
das Haus war weg, und die Vermieterin wollte ihn
hinauswerfen. Mrs. Schafley, die immer so freundlich
gewesen war, wenn Annie dabei war, wollte ihm nicht
einmal ein Zimmer vermieten. Und jetzt kam Harry
Harnik herein und hatte ein mitfühlendes Lächeln
aufgesetzt.
»Ned, ich habe erst von der Sache mit Annie erfahren,
als alles schon vorbei war. Es tut mir wahnsinnig Leid. Sie
war eine wunderbare Frau.«
»Ja, das war sie«, pflichtete Mrs. Schafley bei.
Mit Harniks Angebot, das Haus zu kaufen, hatte das
Unglück begonnen. Mrs. Schafley hatte ihn herbeigerufen,
weil sie nicht allein mit Ned sein wollte. Sie hat Angst vor
mir, dachte Ned. Selbst Harnik guckte ihn auf eine
komische Art an. Er hat auch Angst vor mir, ging es Ned
durch den Kopf.
Die Vermieterin, entgegen ihrer sonst so feindseligen
Haltung, hatte ihm angeboten, den Mai mietfrei in der
Wohnung zu bleiben, weil sie ebenfalls Angst vor ihm
hatte. Ihr Sohn würde niemals bei ihr einziehen wollen; sie
kamen nicht miteinander aus. Sie will mich nur loswerden,
sagte sich Ned.
Lynn Spencer hatte Angst vor ihm gehabt, als er im
Krankenhaus in ihrer Zimmertür gestanden hatte. Ihre
Schwester, diese DeCarlo, hatte an ihm vorbeigeschaut,
als sie das Interview gegeben hatte, und gestern hatte sie
nur kurz den Kopf nach ihm umgewandt. Aber das würde
er ändern. Er würde ihr schon beibringen, ebenfalls Angst
vor ihm zu haben.
Die ganze Wut und der Schmerz, die sich in ihm
aufgestaut hatten, verwandelten sich. Er konnte es spüren.
Sie verwandelten sich in ein Gefühl der Macht, so wie er
es als Kind empfunden hatte, wenn er im Wald mit seiner
Luftdruckpistole auf Eichhörnchen
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