Und morgen in das kühle Grab
Bäume bewegten sich im Wind. Zuerst
dachte er, der Schatten habe irgendetwas damit zu tun …
Aber jetzt hatte der Schatten die Gestalt eines Mannes
angenommen, und in seinem Dämmerschlaf meinte Ned
sogar, sein Gesicht sehen zu können.
War es das Gleiche wie bei seinen Träumen mit Annie,
wo sie ihm so wirklich erschien, dass er sogar den
Pfirsichduft ihrer Bodylotion riechen konnte?
Das musste es sein, sagte er sich. Es war wohl nur ein
Traum gewesen.
Um fünf Uhr, mit dem ersten Dämmerlicht, stand Ned
auf. Seine Glieder schmerzten, weil er im Sessel
eingeschlafen war, aber noch schlimmer war der Schmerz,
den er in seinem Innern verspürte. Er sehnte sich nach
Annie. Er brauchte sie – aber sie war tot. Er ging hinaus,
um sein Gewehr zu holen. All die Jahre hindurch hatte er
es versteckt gehalten, hinter einem Stapel von altem Kram
in der ihnen zugeteilten Garagenhälfte. Er setzte sich
wieder hin, den Lauf fest mit den Händen umklammernd.
Das Gewehr würde ihn zu Annie bringen. Wenn er erst
mit diesen Leuten abgerechnet hätte, die an ihrem Tod
schuld waren, dann würde er zu ihr gehen. Dann würden
sie wieder zusammen sein.
Erneut schoss ihm die Erinnerung an die vergangene
Nacht durch den Kopf. Das Gesicht auf dem Auffahrtsweg
in Bedford. Hatte er es gesehen oder nur geträumt?
Er legte sich hin und versuchte, wieder einzuschlafen,
aber es ging nicht. Die Brandwunde an seiner Hand hatte
sich entzündet und schmerzte. Er konnte nicht ins
Krankenhaus in die Ambulanz fahren. Im Radio hatten sie
gesagt, dass der Typ, den sie wegen des Feuers verhaftet
hatten, eine Brandwunde an der Hand gehabt hätte.
Was für ein Glück, dass er Dr. Ryan in der
Eingangshalle getroffen hatte. Wäre er in die Ambulanz
gegangen, hätte vielleicht jemand die Polizei verständigt.
Und dann hätten sie herausgefunden, dass er im letzten
Sommer für den Landschaftsarchitekten gearbeitet hatte,
den die Spencers in Bedford engagiert hatten. Aber er
hatte das Rezept verloren, das Dr. Ryan ihm ausgestellt
hatte.
Vielleicht würde es besser, wenn er Butter auf die Hand
schmierte. Das hatte seine Mutter getan, als sie sich
einmal die Hand verbrannt hatte, weil sie sich eine
Zigarette am Herd anzünden wollte.
Konnte er Dr. Ryan bitten, ihm ein neues Rezept zu
geben? Vielleicht konnte er ihn einfach anrufen. Oder
würde das Dr. Ryan daran erinnern, dass er ihm nur
wenige Stunden nach dem Feuer eine Brandwunde an der
Hand gezeigt hatte?
Was sollte er tun? Er konnte sich nicht entscheiden.
17
ICH HATTE ALLE ARTIKEL über Nick Spencer aus
dem Caspien Town Journal ausgeschnitten. Nachdem ich
mit Vivian Powers telefoniert hatte, ging ich sie durch und
stieß auf das Foto, welches das Podium bei dem Festessen
anlässlich der Verleihung der »Medaille für herausragende
Verdienste« am 15. Februar zeigte. Die Bildunterschrift
zählte alle Personen auf, die mit Nick Spencer am Tisch
saßen.
Darunter waren der Verwaltungsdirektor des
Krankenhauses Caspien, der Bürgermeister von Caspien,
ein Senator, ein kirchlicher Würdenträger und einige
Männer und Frauen, die ohne Zweifel zu den prominenten
Bürgern der Gemeinde gehörten, alles Leute, die
regelmäßig zu solchen Geldbeschaffungsfeierlichkeiten
eingeladen werden.
Ich notierte mir ihre Namen und suchte ihre
Telefonnummern heraus. Eigentlich hatte ich vor, die
Person in Caspien zu finden, zu der Nick Spencer am
folgenden Tag gefahren war, gleich nachdem er
Dr. Broderick verlassen hatte. Die Chance war zwar
gering, aber vielleicht, man konnte ja nie wissen, hatte sie
zusammen mit ihm auf dem Podium gesessen. Im Moment
hielt ich es für unnötig, den Bürgermeister, den Senator
oder den Verwaltungsdirektor des Krankenhauses
anzurufen. Stattdessen hoffte ich, eine der Damen
ausfindig zu machen, die beim Festakt anwesend gewesen
waren.
Laut Dr. Broderick war Spencer an diesem Morgen
unerwartet nach Caspien zurückgekehrt und äußerst
bestürzt darüber gewesen, dass die Aufzeichnungen seines
Vaters nicht mehr da waren. Ich versuche immer, in die
Haut desjenigen zu schlüpfen, dessen Handlungsweise ich
zu verstehen versuche. Wenn ich in Nicks Haut gesteckt
und nichts zu verbergen gehabt hätte, wäre ich sofort in
mein Büro gefahren und hätte versucht, der Sache auf den
Grund zu gehen.
Gestern Abend, als ich nach dem Essen mit Casey nach
Hause gekommen war, hatte ich mein Lieblingsnachthemd
angezogen, mich auf das Bett
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