Und morgen in das kühle Grab
zumindest schien sie unversehrt bis
zum Nachbarhaus gelangt zu sein. Als Shapiro und Klein
auf unseren Tisch zugegangen waren, hatten Vivians Vater
und ich befürchtet, sie würden schlechte Nachrichten
bringen. Zumindest gab es jetzt wieder neue Hoffnung.
Vivian hatte am Freitag gegen vier Uhr bei mir
angerufen, um mir zu sagen, dass sie zu wissen glaube,
wer die Aufzeichnungen bei Dr. Broderick abgeholt hätte.
Laut Allan Desmond hatte ihre Schwester Jane um zehn
Uhr abends vergeblich versucht, sie zu erreichen, und
vermutet – und gehofft –, dass sie ausgegangen sei. Am
frühen Morgen hatte der Nachbar, der mit seinem Hund
unterwegs war, die offene Haustür bemerkt.
Ich fragte, ob sie es für möglich hielten, dass Vivian
jemanden an der Hinterseite des Hauses gehört hätte, zur
Vorderseite hinausgerannt sei und in der Eile dabei die
Lampe und den Tisch umgestoßen hätte.
Shapiros Antwort darauf war, dass alles möglich sei,
einschließlich seiner früheren Annahme, dass das
Verschwinden inszeniert wurde. Die Tatsache, dass Vivian
mit dem Wagen ihrer Freundin weggefahren sei, würde
genauso zu dieser Version passen.
Ich sah, dass Shapiros Bemerkung Allan Desmond in
Rage brachte, doch er äußerte sich nicht. Ähnlich wie die
Bikorskys, die dankbar waren, dass sie vielleicht noch ein
letztes Weihnachten mit ihrem Kind erleben durften, war
er dankbar, dass nun wenigstens die Hoffnung bestand,
dass seine Tochter es geschafft haben könnte, mit dem
Auto zu entkommen.
Ich hatte mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit
befürchtet, dass ich einen Anruf von Mrs. Broderick oder
Mrs. Ward erhalten würde, mit der Bitte, nicht nach
Caspien zu kommen. Als ich jedoch nichts von ihnen
hörte, ließ ich Allan Desmond mit den Polizeibeamten
zurück, nicht ohne mit ihm vereinbart zu haben, dass wir
weiterhin in engem Kontakt bleiben würden.
Annette Broderick war eine gut aussehende Frau Mitte
fünfzig, mit dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen
Haaren, die leicht gelockt waren und so ihrem etwas
eckigen Gesicht schmeichelten. Sie schlug vor, sich in das
obere Stockwerk – in die Wohnräume über der Praxis – zu
begeben.
Es war wirklich ein wunderschönes altes Haus, mit
großzügigen Räumen, hohen, stuckverzierten Decken und
gebohnertem Eichenparkett. Wir ließen uns im
Arbeitszimmer nieder. Sonnenlicht strömte durch das
Fenster und verstärkte noch die samtweiche Behaglichkeit
des Raumes mit seinen Bücherschränken, die eine ganze
Wand bedeckten, und der englischen Couch mit ihrer
hohen Rückenlehne.
Ich musste daran denken, dass ich diese letzte Woche
fast ausschließlich mit Leuten zusammen gewesen war,
die sich in Ausnahmesituationen befanden, die in großer
Angst lebten vor dem, was ihnen bevorstand. Die
Bikorskys, Vivian Powers und ihr Vater, die Angestellten
von Gen-stone, deren Leben und deren Hoffnungen
zunichte gemacht worden waren – all diese Menschen
standen unter großem Stress.
Es fiel mir auf, dass die einzige Person, an die ich dabei
nicht gedacht hatte, obwohl sie mir hätte einfallen müssen,
meine Stiefschwester Lynn war.
Annette Broderick bot mir Kaffee an, den ich ablehnte,
und ein Glas Wasser, das ich gerne annahm. Sie brachte
auch ein Glas für sich selbst mit. »Philip geht es besser«,
sagte sie.
»Es wird noch lange dauern, aber sie gehen davon aus,
dass er vollständig genesen wird.«
Noch bevor ich ihr sagen konnte, wie sehr ich mich
darüber freute, sagte sie: »Ehrlich gesagt, dachte ich am
Anfang, dass Ihre Vermutung, es sei kein Unfall gewesen,
etwas weit hergeholt ist, aber inzwischen frage ich mich,
ob Sie nicht doch Recht haben.«
»Warum?«, fragte ich schnell.
»Ach, eigentlich nichts Besonderes«, sagte sie hastig.
»Es ist nur – als mein Mann aus dem Koma erwachte, hat
er versucht, mir etwas zu sagen. Das Einzige, was ich so
einigermaßen verstehen konnte, war ›Auto gewendet‹. Die
Polizei sagt, aufgrund der Reifenspuren sei es möglich,
dass der Wagen aus der entgegengesetzten Richtung kam
und gewendet habe.«
»Dann ist die Polizei auch der Meinung, dass Ihr Mann
mit Absicht angefahren wurde?«
»Nein, sie glauben, dass der Fahrer betrunken war. In
der Gegend hier gibt es eine ganze Menge Probleme mit
Minderjährigen, die Alkohol trinken oder Haschisch
rauchen. Sie denken, jemand sei in die falsche Richtung
gefahren, habe gewendet und Phil zu spät bemerkt.
Warum beharren Sie
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