Und oben sitzt ein Rabe
heute?«
Stücker hob die Schultern langsam und ließ sie dann jäh wieder sinken. »Heute teilen, fürchte ich, unsere östlichen Nachbarn unsere Neigung zu Frieden und Wohlstand nicht. Und die südlichen, auf denen wir noch immer herumtrampeln, sehen die Dinge wohl auch anders.«
Matzbach grinste. »Wie bringen Sie denn Ihr friedliebendes Britannien und die anderen friedliebenden Kolonialmächte mit den ausgebeuteten und zertrampelten Völkern der südlichen Hemisphäre zusammen? Und die ausgelöschten Kelten und Karthager mit den friedliebenden Römern?«
Stücker schmunzelte. »Ich widerspreche Ihnen nicht, wenn Sie sagen, die Engländer hätten gar nicht erst nach Indien gehen sollen. Aber nachdem sie einmal da waren, hätten sie die Sache nicht in derartiger Unordnung hinterlassen sollen. Ich glaube nicht, daß es den Leuten in Lahore und Madras heute besser geht als zu Zeiten der Engländer; ich glaube sogar, daß einige der Millionen Ermordeten in Pnom Penh oder der Flüchtlinge aus Ho-Tschi-Minh-Stadt gerne noch unter einem französischen Gouverneur leben würden.«
»Lebten«, warf Frau Gabrieli ein, »oder lüben. Leben, lub, geluben.«
»Womit wir«, sagte Baltasar, beinahe erleichtert, »wieder bei der Sprache wären.«
Stücker nickte. »Ich wollte Sie auch nicht unterbrechen, als ich Sie unterbrach. Sie waren, glaube ich, gerade bei der Schule, nicht wahr? Dazu ist noch zu sagen, daß es eine schöne Sache ist, wenn man allen Interessenten die Möglichkeit gibt, das Abitur zu machen. Ich will nicht davon sprechen, daß niemand ein Volk von Abiturienten beschäftigen kann. Nur ein anderer Gesichtspunkt. Wenn man die Startchancen so weit verbessert hätte, daß jeder die Chance hat, das Abitur zu machen, wäre nichts dagegen zu sagen. Aber was hat man gemacht? Man hat die Zielanforderungen so weit gesenkt, daß auch Leute ohne langen Anlauf und ohne Leistungen ankommen können. Das ist«, sagte er grimmig, »als wollte man in der Leichtathletik allen die Möglichkeit geben, 100 Meter in 10 Sekunden zu laufen. Dann beschließt man, nicht die hundert Meter, sondern die zehn Sekunden sind wichtig, also läuft man nur noch 70 Meter, damit mehr Teilnehmer in 10 Sekunden ankommen. Schließlich wird die Strecke auf 50 Meter verkürzt, und am Ende läuft man gar nicht mehr. Was aber, wenn andere, zum Beispiel unsere Freunde im Osten, lächelnd zusehen, wie wir es uns im Stand gemütlich machen, und uns dann, wenn uns die Füße eingeschlafen sind, überrennen?«
Er blickte Frau Gabrieli an. »Ich weiß, daß diese Gesellschaft ein Spiel ist, aber man kann es auch ernstnehmen. Ich betrachte dieses geschätzte Forum, das sich mit dem Verfall der Sprache befaßt oder sich an diesem ergötzt ...«
Matzbach unterbrach. »Was halten Sie von der Einführung bzw. Wiedereinführung des Genitivus absolutus? So, daß diese Gesellschaft sich dessen ergötze.«
Stücker blickte ihn einen Moment lang irritiert an, dann lachte er. »Gut, also dessen ergötzt. Jedenfalls betrachte ich diesen Verein als eine, wenn auch winzige Möglichkeit, eine kleine Form von Ordnung aufrechtzuerhalten. Neben den anderen Möglichkeiten, um die ich mich bemühe.«
Matzbach streifte die Asche seiner Zigarre in einem dafür vorgesehenen irdenen Töpfchen auf dem nahen Beistelltisch ab. »Was machen Sie denn sonst noch?«
»Oh«, sagte Stücker, »vieles. Wollen Sie das wirklich hören?«
Frau Gabrieli intervenierte. »Ich glaube, Herr Matzbach ist in erster Linie gekommen, um zu erfahren, was wir hier so treiben. Vielleicht sollten wir ihm vordringlich einmal die Arbeitsweise unserer Gesellschaft demonstrieren, und nicht seine Zeit mit Beschäftigungsnachweisen der einzelnen Mitglieder blähen.«
Stücker kicherte. »Das haben Sie nett gesagt, Frau Vorsitzende. Ich bin ja schon still. Vielleicht ergibt sich später oder demnächst noch einmal die Möglichkeit ...«
Im Verlauf der nächsten Stunden erlebte Matzbach eine höchst angenehme Demonstration dessen, was die Mitglieder der Gesellschaft zur Stärkung der Verben e. V. bei ihren Zusammenkünften zu treiben pflogen.
Der kostbar ausgestattete Salon der alten Villa eignete sich vortrefflich für diese Form der Spielerei. Baltasar hatte nach und nach das Gefühl, bei Madame de Sévigné zu sitzen oder in einem Salon, in welchem die Herren Montaigne und La Boétie, jeweils in zehnfacher Ausfertigung wiedergeboren, dabei rücksichtslos ihre Geisteskräfte dezimierend, ernsthaft vor
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