...und plötzlich war alles ganz anders... (Kriminalromane) (German Edition)
geht man nicht so einfach weg.“
Sonja Sänger lächelte. Sie erinnerte sich daran, was ihr der junge Mann unten im Schankraum gesagt hatte.
Etwas irritiert versuchte der Mann in ihrem Gesicht zu lesen: „Was sollte man auch in der Stadt anfangen? Die Leute hier kennen sich untereinander und selbst wenn man auf der untersten Stufe dieser Dorfgemeinschaft steht, so ist da immer noch der Halt den einem die Gewohnheit gibt.“
Die Kommissarin fand das Bild sehr treffend und nickte anerkennend. Sie hätte ihm eine solche Wortwahl nicht zugetraut.
„Außerdem hatte sie doch nichts gelernt.“ fuhr der junge Mann fort: „Nicht einmal die Volksschule konnte sie nach dem Krieg beenden. In der Stadt hätte sie auch nichts anderes machen können als hier in Reinberg. Da war es schon besser, sie blieb bei den Leuten die sie kannte. Mein Vater hat mir erzählt, dass derselbe Bauer, dessentwegen sie den Hof verlassen musste, dass genau dieser Bauer später fast täglich bei ihr vorbei kam. Dann musste er natürlich zahlen fürs..., nun Sie wissen schon. Nachdem die Wagedorn als Nutte abgestempelt war, hatte die Frau des Bauern plötzlich nichts mehr dagegen, dass er mit ihr schlief. Im Gegenteil..., sie war wohl froh, dass er nicht mehr zu ihr kam.“ Der Wirt sah auf die Uhr an seinem Handgelenk: „Komische Welt...“, sagte er, „aber jetzt muss ich nach unten, die ersten Gäste sind gerade hereingeschneit und schreien schon nach ihrem Bier.“
Er ging hinaus, schloss die Tür hinter sich, öffnete sie jedoch wieder nach wenigen Sekunden und steckte seinen Kopf durch den Spalt: „Ich werd meinem Vater Bescheid geben“, sagte er und grinste spitzbübisch, „er wird sich freuen, dass er einen unverbrauchten Zuhörer hat.“
***
Die Kommissarin ging auf ihr Zimmer und stellte ihren Koffer in den Schrank. Sie würde ihn nicht auspacken, mehr als drei Tage konnte sie nicht bleiben, da konnte sie ebensogut aus dem Koffer leben.
Nachdem sie sich im Zimmer etwas umgesehen hatte, ging sie die knarzende Holztreppe hinunter und hörte schon das übliche Treiben in dem stark besuchten Schankraum. Ihr widerstrebte es hineinzugehen. Sie hätte den Sohn bitten sollen, den Vater auf ihr Zimmer zu schicken, überlegte sie.
***
Unschlüssig stieg sie ein- zwei weitere Stufen hinab, da sah sie im Halbdunkel des Aufgangs einen alten Mann stehen, der offensichtlich auf sie wartete. Klein und verhutzelt stand er im Halbschatten des Flurs. Wie eine afrikanische Holzstatue, unbeweglich und still.
Doch plötzlich bewegte die Statue die rechte Hand. Er winkte ihr zu: „Sind Sie die Kriminalerin?“, rief er mit unterdrückter Stimme. Ohne eine Antwort abzuwarten ging er ein zwei Stufen die Treppe ihr entgegen: „Sind Sie die Kriminalerin aus der Stadt?“, wiederholte er.
„Ja doch“, sagte die Kommissarin ärgerlich ins Halbdunkel hinein. So konspirativ hatte sie sich das Gespräch nicht vorgestellt.
„Mein Sohn hat gesagt, sie wollten wissen, wie das damals gewesen ist“, sagte er heiser. An der Stimme bemerkte die Kommissarin, das er oft betrunken sein musste.
„Ich kann Ihnen alles erzählen“, sagte er eilfertig, als ob er befürchtete sie würde es sich anders überlegen und wieder hinauf gehen: „Wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätten die den Fall damals nie aufgeklärt“, sagte er, lächelte und entblößte dabei ein stark renovierungsbedürftiges Gebiss.
„Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt“, berichtigte ihn Frau Sänger mit dem Ausdruck der Sachlichkeit, aber der alte Mann beachtete den Einwand nicht. Die Kommissarin überlegte einen Moment, unterließ es dann aber doch, ihn darauf hinzuweisen, dass eigentlich das genaue Gegenteil zutraf. Wenn er seine unselige Falschaussage nicht gemacht hätte, so hätte man den Fall bereits damals schon aufklären können.
***
In den vergangenen Jahren hatte sich der alte Mann daran gewöhnt der Held des Falles Maria Wagedorn gewesen zu sein. In seiner Phantasie trug damals allein er die Schlüsselinformationen zur Aufklärung des Mordes bei. Und keine Realität der Welt konnte dies ändern.
***
Sonja Sänger näherte sich dem Mann. Er roch nach Bier und säuerlichem Schweiß. Sein Sohn sollte sich bald von dieser Umgebung trennen, dachte sie, sonst würde es bald zu spät dafür sein.
Der Mann setzte sich auf die untere Treppenstufe und erwartete offensichtlich, dass Frau Sänger dasselbe tat.
„Warum gehen wir denn nicht in die Schankstube, da wäre es
Weitere Kostenlose Bücher