Und plötzlich warst du wieder da
zwei, jetzt Nummer eins in der Familien- und Firmenhierarchie, gehorchte Tara brav aufs Wort. Die Liebe bringt die seltsamsten Dinge zuwege, ging es Nadia durch den Sinn.
Die nächste Einstellung zeigte eine geschlossene Doppeltür, die kurz darauf von innen geöffnet wurde, und ein kleiner Junge kam heraus. Er trug ein kleines weißes Seidenkissen und lief damit, so schnell er mit seinen kurzen Beinen konnte, nach vorn zum Altar. Nadia wusste gleich, dass es Rhett war, Everett Kincaids unehelicher Sohn und jüngster Familienzuwachs.
Nadia hatte schon Bilder von ihm gesehen und viel von ihm gehört. Zuerst bei der Testamentseröffnung, die Mitch die Aufgabe zugewiesen hatte, den Jungen bei sich in Kincaid Manor aufzunehmen. Immer wenn Nadia ein kleines Kind sah, versetzte es ihr einen Stich. Aber in diesem Moment war es schmerzhafter als je zuvor. Dass der kleine Kerl ein Kincaid war, dem die Kamera in diesen Augenblicken folgte, war nicht zu übersehen. Es hätte auch ihr Kind sein können. Bei diesem Gedanken legte Nadia sich unwillkürlich die Hand auf den Bauch. Ihr Sohn wäre dieses Jahr zehn geworden.
Mitch nahm den Kleinen in Empfang, hob ihn hoch und nahm ihm das Kissen ab, auf dem die Eheringe festgesteckt waren, die er Rand reichte. Dann drückte er dem Kind einen Kuss auf die Stirn und reichte ihn einer Frau um die sechzig, die Nadia nicht kannte. Diese Szene rührte sie sehr. Denn so hatte sie ihren Bruder noch nie erlebt. Mitch, der immer so nüchtern und korrekt war, hatte geschimpft wie ein Rohrspatz, als es geheißen hatte, dass er den Kleinen in Obhut nehmen sollte. Und jetzt hielt er Rhett so liebevoll, als wäre er sein Sohn.
Ihre Brüder standen nebeneinander und warteten am Altar auf die Braut. Beide sahen glücklich und entspannt aus. Ganz im Gegensatz zu damals, als ich geheiratet habe, dachte Nadia. Die Brüder waren gekommen, um ihre Schwester zu unterstützen – etwas, was ihr Vater nicht für nötig gehalten hatte. Aber glücklich hatten sie dabei nicht ausgesehen.
Mitch hob den Kopf und blickte gespannt zur Tür, aus der vorhin der kleine Rhett gekommen war. Gerade rechtzeitig schwenkte die Kamera dorthin, die Tür ging auf, und die Braut trat heraus. Aufmerksam betrachtete Nadia ihre künftige Schwägerin. Carly war eine schlanke, hübsche Blondine, die in einem elfenbeinfarbenen, schlichten langen Brautkleid den Mittelgang durchschritt. Anstelle eines Schleiers trug sie einen Blumenkranz im Haar. Die geröteten Wangen verrieten ihre Aufregung, doch Carlys Lächeln überstrahlte alles. Voller Liebe blickte sie ihrem Bräutigam entgegen, und mit demselben Glanz in den Augen sah Mitch seiner Braut entgegen.
Sosehr sie sich für die beiden freute, schnürte es Nadia auch die Kehle zu. Denn was sie dort sah, gab es für sie nicht mehr: eine richtige Hochzeit, diese Hingabe zu einem geliebten Menschen, Kinder. Tapfer kämpfte sie dagegen an, aber vergebens. Schon liefen ihr die ersten Tränen über die Wangen. Sie drehte den Kopf weg, damit Lucas es nicht bemerkte. Zu spät. Tröstend legte er Nadia den Arm um die Schultern und sah sie mit seinen blauen Augen ernst an.
Vor elf Jahren waren sie das glückliche Paar gewesen – allen Widrigkeiten zum Trotz. Sie beide waren es gewesen, denen das Herz vor Liebe und Glück geradezu überzuquellen gedroht hatte. Sie hatten sich in der Kirche gegenübergestanden und nur Augen füreinander gehabt.
Nadia warf Lucas einen Seitenblick zu. Ja, Spuren von diesem Mann, den sie so sehr geliebt hatte, waren noch zu erkennen. Was für ein Jammer, dachte sie. Wie habe ich mich in ihm so täuschen können.
Natürlich hatte es vor allem an ihrem Vater gelegen, dass ihre Liebe zerstört worden war. Aber wenn Lucas wirklich an sie geglaubt hätte, wenn er sie wirklich geliebt hätte, dann hätte er das Geld nicht genommen. Letztendlich hatte er ihrem Glück den Todesstoß versetzt.
Nadia befreite sich aus seiner Umarmung und rieb sich die Arme. Noch immer versuchte sie die Tränen zurückzuhalten. Hätte sie an diesem Abend allein hier gesessen, hätte sie sich jetzt wohl schon fast die Augen aus dem Kopf geweint. Sie konnte Lucas nicht einmal für alles die Schuld geben. Den Unfall hatte sie schließlich selbst verschuldet. Alles wäre anders gekommen, wenn sie sich damals nur ein paar Minuten lang zusammengerissen hätte.
Oder nicht? Vielleicht hätte Lucas sie irgendwann später doch betrogen. Aber dann hätte sie heute wenigstens noch ihren Sohn …
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