Und plotzlich ist es Gluck
Zweiteres. Unter der Jacke, die als Blazer durchgehen kann, trägt er ein Hemd, aber keine Krawatte. Er greift sich mehrere Male mit der Hand an den Hals, als wollte er den Knoten zurechtrücken, nur um sie sogleich wieder sinken zu lassen. John fühlt sich in Freizeitkleidung unwohl. Er zieht die Anonymität eines marineblauen Anzugs vor, gepaart mit einem weißen Hemd und einer Krawatte, und eventuell einer Krawattennadel zu besonderen Anlässen.
Er setzt sich neben mich. »Wie geht es dir?«
»Bestens«, sage ich. Meine Ängste in Bezug auf meine Vagina und meine möglicherweise falsch eingeschätzte Schmerzgrenze erwähne ich nicht.
»Red Butler ist also doch nicht gekommen«, stellt er mit einem Blick nach rechts und links fest.
»Nein«, sage ich fröhlich, als wäre es mir egal.
Der Röntgenologe ist derselbe wie beim letzten Mal.
»Tag, Pete«, sage ich.
»Na, wenn das nich die gute alte Scarlett O’Hara ist«, knödelt Pete. Das soll wohl eine Art Südstaatenakzent sein.
John legt mir eine Hand auf den Rücken. Er weiß, dass ich scherzhafte Anspielungen auf Vom Winde Verweht hasse.
Es ist jetzt neun Uhr zweiundvierzig, und Red Butler liegt irgendwo in Fermanagh im Bett und lässt sich nicht vom hartnäckigen Klingeln von Bryans Glocke stören. Ich klettere auf die Liege, entblöße meinen Bauch und warte darauf, dass Pete mit seinem Gel anrückt. Die Vorstellung, Red Butler könnte Ellens Vater sein, macht mir Angst. Wenn er es nicht einmal schafft, sich wegen einer Ultraschalluntersuchung aus dem Bett zu quälen, ist es eher unwahrscheinlich, dass er sich an ihre Geburtstage erinnern wird. Er wird zu spät zu ihrer Erstkommunion kommen, und wenn sie einmal heiratet, wird Onkel Bryan Ellen zum Altar geleiten müssen, weil Red Butler in der falschen Kirche steht. Red wird den Namen ihres erstgeborenen Kindes vergessen und ihr jedes Jahr vor Weihnachten eine SMS schicken müssen, um ihre Adresse zu erfragen, damit er ihr wenigstens eine Karte schicken kann. Diese Gedanken schnüren mir die Luft ab, sie verschlingen mich wie Treibsand. Das müssen die mütterlichen Schuldgefühle sein, von denen mir andere Mütter erzählt haben. Ellen verdient etwas Besseres.
Plötzlich vernehme ich draußen am Korridor Schritte. Besser gesagt, ein Galoppieren, gefolgt von einem lauten Klopfen, und ehe jemand »Herein« sagen kann, wird die Tür aufgerissen und die hünenhafte Gestalt von Red Butler erscheint, verschlafen und zerzaust. Ich versuche, mein Lächeln hinter einer Maske der Gleichgültigkeit zu verbergen, aber es ist schwierig. Okay, er ist vierzehn Minuten zu spät dran, seine Zähne sind höchstwahrscheinlich ungeputzt, eine Frühstücksflocke ziert sein dichtes rotes Haar, und sein Wagen steht zweifellos irgendwo im Halteverbot, aber er ist hier.
»Tut mir echt leid, dass ich zu spät komme«, sagt er, wobei er versucht, ganz normal zu klingen und nicht wie jemand, der gerade einen heftigen Asthmaanfall erlitten
hat. »Mein Wagen hat den … Geist aufgegeben … Landsdowne … musste laufen …« Er verstummt.
»Na, jetzt bist du ja hier, und wir haben gerade erst angefangen. Ist also nicht weiter schlimm«, sage ich und bin – stellvertretend für Ellen – derart erleichtert, dass es mir nicht einmal unangenehm ist, in einem Raum mit meinem Ex-Freund und dem einzigen One-Night-Stand meines Lebens zu sein.
»Normalerweise ist hier nur ein … äh … Gast pro Patientin zugelassen.« Pete blickt von John zu Red und wieder zurück. »Wer ist der Vater? «
Okay, jetzt ist es mir doch peinlich.
»Also … «, setzt John an, weil er es hasst, wenn er eine Frage nicht beantworten kann.
»Es ist so … «, sagt Red im selben Augenblick und streicht sich die Haare aus der Stirn.
»Könnten sie nicht beide bleiben?«, bitte ich Pete, und damit ist seine Frage auch schon beantwortet. Er nickt rasch und widmet sich dann seinen Geräten.
Eine Weile ist in dem kleinen Kabuff nur zu hören, wie er leise »Over the Rainbow« summt und dabei diverse Knöpfe drückt und dreht. Red und John stehen rechts und links von mir und starren auf den Monitor.
»Entschuldigt, wie unhöflich von mir«, sage ich schließlich. »John, das ist Red Butler. Red, das ist John Smith.«
Ich weiß nicht, ob es Verhaltensregeln für Situationen wie diese gibt. Falls ja, dann kennen wir sie jedenfalls nicht. John mustert Red wortlos. Wegen der Haare. Man braucht einfach eine Weile, um den Anblick zu verdauen. Dann streckt
Weitere Kostenlose Bücher