Und plotzlich ist es Gluck
vergilbten Bodendielen streifen. Dann richtet er sich auf, nicht ohne sich mit einer Hand am Klavier abzustützen.
»Scarlett!« Mit zwei großen Schritten ist er bei mir, die Arme weit ausgebreitet, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, und statt ihm die Zigarette aus den Fingern zu nehmen und im Aschenbecher zu deponieren, wie ich es sonst tue, schmiege ich mich einfach an ihn und drücke mein Gesicht an seinen faltigen Hals. Er riecht wie eine Bar am Sonntagvormittag. Seine Haut ist weich und warm und kratzig an den Stellen, die sein Rasierer morgens nicht erwischt hat. Ich schließe die Augen und versuche, nicht an die Tests zu denken. Die positiven Tests.
Er macht sich von mir los und mustert mich prüfend. »Was ist denn los mit dir, Liebes?«
»Nichts«, erwidere ich und schiebe ein paar Notenblätter auf dem Klavier hin und her. »Ich hatte einen schlechten Tag im Büro.«
»Im Büro? Du kommst erst jetzt von der Arbeit?« Declan ist das Konzept der stinknormalen Vierzigstundenwoche genauso fremd wie Maureen.
Er blickt zu Hugo, als würde er auf eine Erklärung warten. Hugo liefert oft einleuchtende Erklärungen für Phänomene, die Declan nicht versteht.
»Sieh mich nicht so fragend an, alter Freund. Ich habe seit Jahren nicht gearbeitet«, sagt Hugo gut gelaunt. Wie die meisten Amerikaner liebt er Großbritannien, insbesondere den britischen Akzent, den er sich denn auch prompt am Tag nach seiner Ankunft in London angeeignet hat.
»Hallo, Scarlett«, flötet er und tänzelt nun ebenfalls herbei. Selbst ich muss mich leicht bücken, um ihn zu umarmen.
Hugo ist der Inbegriff dessen, was man einen adretten kleinen Burschen nennt, mit der Betonung auf klein.
»Zeit für einen Trinkspruch«, erklärt Declan. In seiner Welt ist jede noch so harmlose Begebenheit Anlass für einen Trinkspruch. Er kippt Rotwein in zwei Kaffeetassen, reicht eine davon Hugo, die andere mir. Dann hebt er die Milchkanne in die Höhe. »Auf Scarlett, die wieder zu uns nach Hause gekommen ist.«
»Meine Güte, Dad, ich war bloß im Büro. Du bist so eine Drama Queen.«
»Aber eine höchst überzeugende«, mischt sich Hugo ein. Ruhestand hin oder her, er wird stets Declan O’Haras Agent bleiben.
»So überzeugend dann auch wieder nicht«, wehrt Declan mit gespielter Bescheidenheit ab. »Aber immerhin so gut, dass ich damit unsere Rechnungen bezahlen kann.«
»Oh ja, mein Lieber. Oh ja.« Hugo hebt seinen Kaffeebecher, und Declan stößt mit ihm an, worauf die beiden wie aus einem Mund »Olé« brüllen, ein Brauch aus grauer Vorzeit, dessen Ursprünge längst in Vergessenheit geraten sind.
Um mich hinsetzen zu können, muss ich einen gefährlich schiefen Papierstapel vom Sofa nehmen. Ich sehe mich nach einem Platz dafür um, doch sämtliche Oberflächen sind mit Unterlagen, Büchern, schmutzigen Gläsern und überquellenden Aschenbechern übersät. Dazwischen stehen zwei Teller mit den Überresten vom Frühstück – Spiegelei mit gebratenem Speck. Ich stelle den Stapel auf dem Boden ab und sehe auf die Uhr. Der Lachs kann getrost noch fünf Minuten im Backrohr bleiben.
»Ich sollte mich auf den Weg machen«, sagt Hugo.
»Bleib ruhig«, sage ich. »Es ist genügend Fisch für alle da.«
»Nein, ich sollte jetzt wirklich gehen. Ich bin schon den ganzen Nachmittag hier.« Hugo schielt zur Tür, als fürchte er, Maureen könnte gleich auftauchen, mit seinem Hut und seinem Mantel – und mit einem Knüppel, um seinen Aufbruch zu beschleunigen. Hugo und Maureen wetteifern seit jeher um Declans Zeit und Aufmerksamkeit, und obwohl Hugo oft siegreich aus dem Konkurrenzkampf hervorgeht, zieht er es vor, ihr das tunlichst nicht unter die Nase zu reiben, sondern lieber einen großen Bogen um sie zu machen.
Die beiden Männer umarmen einander wie Brüder, die in den Krieg ziehen und einander womöglich niemals wiedersehen werden. Hugo lächelt mich an, murmelt etwas von Sylvester, seinem Ziegenbock, und macht sich auf den Weg. Sylvester ist Hugos alternative Alarmanlage und hat sich bereits als wirksames Mittel zur Abschreckung von Einbrechern erwiesen, dabei sieht er ungefähr so einschüchternd aus wie ein Kalenderkätzchen.
»Also«, sagt Declan und klappt den Klavierdeckel herunter, um sich dagegenzulehnen, »was gibt es Neues von der Welt dort draußen?« Der Blick seiner grünen Augen ruht auf mir, und es kommt mir so vor, als wüsste er Bescheid. Ich fühle mich von Panik umzingelt wie von einer Meute Wölfe.
Ich ziehe
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