Und Sei Getreu Bis in Den Tod: Mitchell& Markbys Letzter Fall
kein besonders schöner Tag, wie mein Mann bereits gesagt hat. Setzen Sie sich doch hier ans Feuer.«
Ihre Stimme klang lauter und fester; sie bewegte sich auf sicherem Untergrund, indem sie die gesellschaftlichen Höflichkeiten austauschte. Sie ist bestimmt eine gute Gastgeberin, dachte Jess. Ganz gleich, wie schwierig die Gäste waren oder wie langweilig die Veranstaltung war, Alison würde sie mit Charme und Eleganz über die Bühne bringen. Zu ihrer Überraschung spürte Jess so etwas wie widerwillige Bewunderung. Sie wusste, dass ihr diese Art von Talent abging, auf die Alison automatisch zurückgreifen konnte. Andererseits – wann in ihrem Leben hatte sie die Zeit oder die Gelegenheit gefunden, derartige Dinge zu üben? Sie besaß andere Fähigkeiten. Sie konnte einer Autopsie beiwohnen und zusehen, ohne sich zu übergeben. Sie konnte Zeugen befragen und Schilderungen von widerlicher Brutalität und Pervertiertheit lauschen. Sie konnte in der Enge des kleinsten Verhörzimmers mit hartgesottenen Kriminellen umgehen. Doch sie hätte keine Dinnerparty geben können, wenn es um ihr Leben gegangen wäre. Was ich auch gar nicht will, sagte sie sich. Ich habe mich für ein anderes Leben entschieden. Ich habe mich für eine Karriere bei der Polizei entschieden.
»Danke sehr«, antwortete sie höflich und nahm auf dem angebotenen Lehnsessel Platz.
Jenner war zurückgekehrt und setzte sich ebenfalls wieder. Er räusperte sich. Jess hatte den Eindruck, als würde er eine Konferenz leiten und zur Ordnung rufen. »Selbstverständlich möchten wir der Polizei helfen«, sagte er. »Aber meine Frau und ich haben diese traurige Angelegenheit besprochen, und wir können Ihnen wirklich keine andere Erklärung anbieten als die, die ich bereits abgegeben habe, als wir den Leichnam meiner Tochter fanden. Irgendein Wahnsinniger hat diese Tat begangen, die gleiche Person, die meiner Frau Alison diese Drohbriefe geschrieben hat. Finden Sie ihn, und Sie haben den Mörder meiner Tochter.« Jenner endete flach und förmlich und blickte Jess herausfordernd an, seine Schlussfolgerungen infrage zu stellen.
»Wissen Sie …«, begann Alison mit ihrer leisen Stimme, bis ihr zu dämmern schien, wie schwierig es für Jess war, sie zu verstehen. Sie setzte erneut an und sagte diesmal lauter: »Wissen Sie, worauf sich diese Briefe bezogen? Auf den Tod meiner Tante? Hat Alan Markby Ihnen das gesagt?«
»Ich habe die Akte gelesen«, räumte Jess ein.
Für einen Moment sah Alison aus, als würde ihr schlecht. Die Frau stand unter gewaltiger Anspannung. Jess spürte einen instinktiven Anflug von Sympathie für sie und zur gleichen Zeit ein schuldbewusstes Brennen, weil sie in ihrem Memo an Markby vorgeschlagen hatte, dass Alison Harris letzten Endes vielleicht doch des Mordes an Freda Kemp schuldig gewesen war. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass nette, freundliche Frauen mit allen sozialen Talenten gemordet hatten. Diese hier jedoch war freigesprochen worden. Jess wurde sich einmal mehr bewusst, wie vorsichtig sie bei der Befragung von Alison zu Werke gehen musste.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fragte Jenner in scharfem Ton: »Es hat einen Versuch gegeben, einen eindeutigen Versuch, die traurigen Einzelheiten des Todes der Tante meiner Frau ans Licht zu zerren. Dass meine Tochter in der gleichen Körperhaltung im See aufgefunden wurde …« Er brach ab. »Es ist abscheulich!«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Es ist krank. Er ist krank, dieser Wahnsinnige, wer auch immer sich dahinter verbirgt!«
»Es tut mir Leid«, sagte Jess und meinte es ernst. Sie wandte sich an Alison. »Mr Jenner hat Ihnen das Ergebnis der amtlichen Obduktion mitgeteilt, nehme ich an?«
»Ich weiß, dass meine Stieftochter erstochen wurde.«
Alisons Stimme klang ruhig, und es schwang tatsächlich etwas wie Erleichterung darin mit.
An Jenner gewandt fragte Jess: »Können Sie mir mehr über Ihre Tochter erzählen? Hat sie hier bei Ihnen im Haus gewohnt?«
Er hatte die Hand vor die Augen gelegt, während seine Frau gesprochen hatte. Jetzt nahm er sie herunter. »Gütiger Gott, nein. Nein, sie hat – hatte eine Wohnung in London. Nichts Besonderes, eine kleine Zweitwohnung. Heutzutage nennen sie es Studio, ein großer Raum mit einer Kochnische und einem Balkon und einem abgetrennten Bad.«
Es klang teuer in Jess’ Ohren, auch wenn Jenner die Wohnung herunterspielte. »Wo genau in London?«, fragte sie.
»In Docklands.«
Jess machte eine Notiz. »Hat sie dort
Weitere Kostenlose Bücher