Und so verlierst du sie
auf die Anzeichen dafür, dass er sie vermisst. Darüber darfst du nicht nachdenken, mahnt mich Ana Iris. Verscheuch solche Gedanken. Du willst doch deswegen nicht wahnsinnig werden.
So überlebt Ana Iris hier, so schafft sie es, nicht wegen ihrer Kinder den Verstand zu verlieren. Zum Teil überleben wir alle so. Ich habe ein Foto von ihren drei Söhnen gesehen, drei kleine, lächelnde Jungs bei einem Ausflug in den Jardín Japonés, neben einer Kiefer, der Kleinste ein verwischter safrangelber Fleck, weil er aus dem Bild huschen wollte. Ich höre auf ihren Rat, und auf dem Weg zur Arbeit und nach Hause konzentriere ich mich auf die anderen Schlafwandler um mich herum, auf die Straßenkehrer, auf die Männer, die sich hinter Restaurants herumdrücken, die Haare ungeschnitten, eine Zigarette in der Hand; auf die Anzugträger, die aus den Zügen stolpern – nicht wenige von ihnen werden bei ihren Geliebten vorbeisehen, und sie werden an nichts anderes denken, wenn sie zu Hause vor ihrem kalten Essen sitzen oder mit ihren Ehepartnern im Bett liegen. Ich denke an meine Mutter, die etwas mit einem verheirateten Mann hatte, als ich sieben war, einem Mann mit einem attraktiven Bart und zerfurchten Wangen, der so schwarz war, dass ihn alle Noche nannten. Er verlegte draußen auf dem campo für Codetel Leitungen, aber er lebte in unserem barrio und hatte zwei Kinder mit einer Frau, die er in Pedernales geheiratet hatte. Seine Frau war sehr hübsch, und wenn ich an Ramóns Frau denke, habe ich sie vor Augen, mit hohen Schuhen, braunen Beinen, von denen sie viel zeigte, eine Frau, die wärmer war als die Luft um sie herum. Una jeva buena. Ich stelle mir Ramóns Frau nicht als ungebildet vor. Sie sieht sich die telenovelas nur an, um Zeit totzuschlagen. In ihren Briefen erwähnt sie ein Kind, für das sie sorgt und das sie fast genauso liebt, wie sie ihr eigenes geliebt hat. Am Anfang, als Ramón noch nicht lange fort war, hat sie geglaubt, sie könnten noch einen Sohn bekommen, ein Kind wie diesen Victor, ihren amorcito.
Er spielt Baseball, so wie du
, hat Virta geschrieben. Enriquillo erwähnt sie nie.
Hier passiert eine Katastrophe nach der anderen – aber manchmal kann ich unsere Zukunft klar sehen, und sie ist gut. Wir werden in seinem Haus wohnen, und ich werde für ihn kochen, und wenn er Lebensmittel auf der Arbeitsplatte liegenlässt, nenne ich ihn einen zángano. Ich kann mir vorstellen, wie ich ihm jeden Morgen beim Rasieren zusehe. Manchmal sehe ich aber auch, wie wir in diesem Haus wohnen und er an einem sonnigen Tag (oder an einem Tag wie diesem, der so kalt ist, dass jeder Windstoß unsere Gedanken in eine andere Richtung trägt) aufwacht und beschließt, dass alles falsch ist. Er wird sich das Gesicht waschen und sich zu mir drehen. Es tut mir leid, wird er sagen. Ich muss jetzt gehen.
Samantha kommt krank zur Arbeit, sie hat die Grippe; mir ist sterbenselend, sagt sie. Sie schleppt sich von einer Aufgabe zur nächsten, lehnt sich gegen die Wand, um sich auszuruhen, isst keinen Bissen, und am nächsten Tag habe auch ich die Grippe. Ich stecke Ramón an: er schimpft mich deswegen aus. Glaubst du etwa, ich kann mir einen Tag freinehmen?, fragt er.
Ich sage nichts, das würde ihn nur ärgern.
Er ist nie lange böse. Dafür geht ihm zu viel durch den Kopf.
Freitag kommt er vorbei, um mir das Neueste über das Haus zu erzählen. Der alte Mann will an uns verkaufen, sagt er. Er zeigt mir Unterlagen, die ich nicht verstehe. Er freut sich, aber er hat auch Angst. Das kenne ich, so ging es mir auch schon.
Was meinst du, was soll ich machen? Seine Augen sehen nicht mich an, sie blicken aus dem Fenster.
Ich finde, du hast ein Zuhause verdient.
Er nickt. Aber ich muss ihn noch runterhandeln. Er holt seine Zigaretten heraus. Weißt du eigentlich, wie lange ich darauf gewartet habe? Mit einem eigenen Haus in diesem Land fängt das Leben an.
Ich will das Gespräch auf Virta bringen, aber er würgt das Thema ab, wie immer.
Ich habe dir schon gesagt, dass es vorbei ist, erklärt er schroff. Was willst du noch? Eine maldita Leiche? Ihr Frauen wisst nie, wann es reicht. Ihr könnt einfach keine Ruhe geben.
An diesem Abend gehen Ana Iris und ich ins Kino. Wir verstehen die englischen Dialoge nicht, aber die sauberen Läufer in dem neuen Kino gefallen uns. Neonstreifen in Blau und Pink zucken wie Blitze über die Wände. Wir kaufen eine Portion Popcorn für uns beide und schmuggeln Dosen mit Tamarindensaft von der
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