Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Kuru-Opfern. Ich weiß nicht, ob ein Nichtmediziner verstehen kann, was es bedeutet, wenn man in einem solchen Fall keine Entzündung feststellt. Es müsste eine geben, aber es gibt keine. Absolut keine !«
Wie wenn man einen Mord untersucht und kein Motiv findet, dachte der Commissaris; es sollte eins geben, weil es immer eins gibt, aber diesmal findet man es nicht.
Das Telefon klingelte, doch Pieters achtete nicht darauf. »Wir kamen zu der Überzeugung, dass wir das Gehirn eines Kuru-Opfers sezieren müssten, denn ganz offensichtlich befand sich dortder Krankheitsherd. Wir mussten uns ein vollständiges Gehirn beschaffen, es konservieren und von Neuguinea via Australien in ein Labor schaffen. Also blieb uns nichts anderes übrig, als mitten im Busch des östlichen Hochlands einen der an Kuru krepierten Fore zu obduzieren und ihm das Gehirn zu entnehmen.«
Nach dem fünften Klingeln gab der Anrufer auf. »Damals kannte ich mich in der Pathologie noch nicht aus und versuchte das Gehirn gleich an Ort und Stelle in Scheiben zu schneiden«, sagte Pieters, »mit dem Ergebnis, dass ich am Ende nur einen einzigen schrecklichen Brei vor mir liegen hatte. Frisches Gehirn, müssen Sie wissen, ist so labbrig wie weiches Rührei. Aber schon beim zweiten Mal – inzwischen hatte ich mich über Funk instruieren lassen – legte ich es gleich nach der Entnahme zwei Wochen lang zum Konservieren in Formalin, bevor ich es in Verbandsmull wickelte und per Buschpilot zum nächsten Flugplatz schickte. Inzwischen fühlte es sich an wie ein weicher Gummiball. Aber auch der Kollege im Labor fand keinerlei Hinweis auf eine Entzündung. Deswegen meinte er, die Ursache für die Erkrankung könnte irgendein Gift sein, mit dem die Fore über ihre Nahrung oder ihre Umgebung in Berührung kamen. Allerdings fand er etwas anderes, oder besser, ich fand es, als er mir seine Ergebnisse zukommen ließ.«
Wieder klingelte das Telefon, und diesmal ging der Professor an den Apparat. »Pieters«, meldete er sich knapp. Als er die Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, trat ein Lächeln auf sein Gesicht. »Ja«, sagte er leise, »ja, gut«, bevor er Van Leeuwen den Rücken zuwandte, um sich auf seinen Gesprächspartner zu konzentrieren, »nein, heute nicht mehr, ich bin bald zu Hause.«
Es klang, als spräche er mit einer Geliebten oder mit einem Kind, nur wenige Worte, zärtlich betont. Schließlich sagte er: »Ich dich auch«, und legte auf. Er wandte sich wieder Van Leeuwen zu. »Mein Sohn«, erklärte er. »Wo war ich stehen geblieben ?«
»Was haben Sie gefunden ?«, fragte Van Leeuwen.
»Wie bitte ?«
»In dem Gehirn des toten Steinzeitmenschen, was haben Sie da gefunden?«
»Löcher«, antwortete Pieters. Er betrachtete noch einen Moment lang das Telefon, dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Damals war ich kein Pathologe. Deswegen habe ich die Löcher bemerkt. Die Zellkörper der Nervenzellen waren durchlöchert wie ein Schwamm. Der Arzt im Labor hatte ihnen keine Bedeutung beigemessen, weil Pathologen einen Widerwillen gegen Leere haben, sie verabscheuen Löcher. Eine Diagnose aus etwas abzuleiten, was nicht da ist, verursacht ihnen Albträume. Aber genau das ist das entscheidende Merkmal von Creutzfeldt-Jakob: die Löcher.«
»Ich liebe Löcher«, sagte der Commissaris. »Meine Arbeit basiert geradezu auf Löchern – in einem Körper, in einem Kleidungsstück, in einem Alibi, in einem Zeitablauf. Löcher sind das, wonach ich als Erstes suche.« Er hielt inne, denn deswegen war er nicht hier. »Kuru und CJ D führten also zu ähnlichen Gehirnschäden, habe ich Sie da richtig verstanden ?«
Pieters wirkte plötzlich geistesabwesend. »Mit dem einen Unterschied: CJ D befällt hauptsächlich ältere Menschen über vierzig, das durchschnittliche Todesalter liegt bei sechzig. Kuru raffte häufig schon Kinder dahin. Symptome und Verlauf waren bei Kuru immer gleich. Bei CJ D dagegen haben wir die ganze Palette, von Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen über Erblinden und Persönlichkeitsveränderungen, die bis zum Wahnsinn führen. CJ D ist sozusagen eine Symphonie, Kuru dagegen nur eine hübsche kleine Melodie.«
Wie um dieses Bild zu illustrieren, summte der Professor vor sich hin – Bruchstücke einer Melodie, die Van Leeuwen bekannt vorkam, ohne dass ihm einfiel, woher.
»Trotzdem«, unterbrach Pieters sich selbst, »es gab noch immer keine Antwort auf die Frage nach der Ursache. Welche Verbindung bestand
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